Das Nebelhaus
kleine Gebäude und die Familie, die davor posierte, waren dem brennenden Scheiterhaufen zum Opfer gefallen. Das Wenige, was Frau Nan von ihrer Jugend geblieben war, bildete eine verkohlte, stinkende Masse.
Ein einziges Bild hatte überlebt. Es lag fast unversehrt unter dem Haufen und war nur an wenigen Stellen schwarz angelaufen. Frau Nan zog es hervor. Es war ihr Hochzeitsfoto, eine ungefähr vierzig Jahre alte Schwarz-Weiß-Aufnahme.
Sie und Herr Nan sitzen nebeneinander auf zwei riesigen, schmucken Stühlen, steif wie ein Königspaar, aber lächelnd. Überall sind Blüten: in ihren Haaren, um ihren Hals, auf ihren Kleidern und auf den Kleidern der Gäste, die um sie herumstehen und in die Kamera winken. Herr Nan hält ein Horoskop in Händen, das anlässlich ihrer Hochzeit für das Paar erstellt worden ist. Darin wird ihnen eine glückliche Ehe prophezeit.
Sie seufzte. Herr Nan hatte dem Horoskop damals geglaubt, er glaubte von jeher an Lügen, ganz besonders an seine eigenen. Was diesem Foto jedoch nicht anzusehen war, was niemand vermuten würde, der es unbefangen betrachtete: dass dieselben fröhlich winkenden Menschen nur wenig später Herrn und Frau Nans Schicksal ins Düstere, Tragische hineintreiben würden.
Sie steckte das Foto ein, dann drehte sie den Wasserhahn auf und schickte den schwarzen Schlick zu den Abwässern.
Frau Nan ging zum Meer. Es waren nur wenige Schritte bis dorthin und gerade so viel Dämmerung zwischen ihr und ihrem in den Bambusbüschen lauernden Mann, dass sie sich einbilden konnte, allein zu sein. Vor dem Wasser sank sie nieder. Ab und zu erreichte eine Welle den kleinen Körper von Frau Nan, die sich dann mit viel Mühe der Illusion hingab, es handele sich um die Strömung des Mekong.
Nur wenig auf Hiddensee erinnerte an ihre Heimat, den Ort ihrer Kindheit. Es fehlte so gut wie alles: die Schreie der Affen in der Nacht, wenn die Python sich näherte, die Zimtbäume und großen Blüten, der Parfümgeruch des Waldes im Morgengrauen, die zappelnden Schlammfische, die alle Mädchen und Jungen zu Tausenden fingen, damit ihre Mütter sie mit Salzlake zu Paste verarbeiteten, die schönen Namen der Dörfer und Städte, Kampong Cham, Krouch Chmar, Ratanakkiri, Angkor Chey, deren Klang genügte, um die Mutterwelt wieder erstehen zu lassen. Von alledem war sie abgeschnitten, getrennt durch die Dimensionen des Raumes und der Zeit.
Oft dachte sie daran zurückzugehen und wusste doch, es war unmöglich. Es gab kein Zurück für sie. Die Schande, die sie mit Herrn Nan verband, mit dem einst geliebten und nun ungeliebten Mann war ewig.
»Ich wünschte, ich hätte eine Mutter wie deine«, sagte Yasmin, als sie von Ferne auf Frau Nans kleinen, mondbeschienenen Körper blickte, der vor dem Ozean saß.
Sie hatte sich mit Yim auf einen Spaziergang vom Lagerfeuer entfernt. Die Abenddämmerung, das knisternde Feuer und das Zusammensein mit alten Bekannten hatten sie sentimental werden lassen, und Yim schien ihr ein guter Zuhörer zu sein. Sie hatte auf Anhieb Vertrauen zu ihm gefasst.
»Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter mich in ein streng katholisches Internat gesteckt hat. Dort haben die Nonnen mir einzubläuen versucht, wie die Welt funktioniert und dass ohne Christus sowieso nichts geht. Ich schrie ihnen irgendwann ins Gesicht, dass ich mir meine eigene Welt schaffe und dass das Männlein am Kreuz darin nicht vorkommt. Das haute sie glatt um. Ich bekam eine Strafe nach der anderen. Mit fünfzehn warfen sie mich raus, weil ich auf dem Internatshof Kondome verteilte. Meine Mutter redete ein Jahr lang kaum ein Wort mit mir, was mir allerdings egal war, weil sie nie etwas sagte, das bei mir ein gutes Gefühl oder Interesse hervorrief. Sie redete immer nur Luftblasen und war aalglatt, eine Heuchlerin mit einem Gesicht wie aus Marmor gehauen. Mein Vater dagegen war von früh bis spät damit beschäftigt, Bonzen vor Gericht zu verteidigen, die beim Betrügen erwischt worden waren. Die seltenen Gespräche mit seinen Kindern drehten sich nur darum, wie sie ihm dabei helfen konnten, eine Fassade zu errichten. Meine Geschwister sind wie meine Eltern geworden. Sieh dir dagegen deine Mutter an. Sie strahlt etwas aus, hat Charakter. Ich schätze, sie ist eine gute Mutter.«
»Ja, ich hänge sehr an ihr. Wenn ich nach Hiddensee komme, besuche ich eigentlich sie, nicht meinen Vater.«
»Einerseits wirkt sie ausgeglichen, stoisch und duldsam, andererseits mitten im Leben stehend und klug, wie eine
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