Das Nebelhaus
Überlebenskünstlerin. Was tut sie da? Beten?«
»Wer weiß? Manchmal ist sie einfach nur traurig. Dann sitzt sie am Meer oder geht in den Schuppen.«
»Ich kann sie verstehen. Irgendwie fühle ich mich ihr verwandt. Ist sie praktizierende Buddhistin?«
»Ja.«
»Toll, ich auch. Überleg mal, Yim, wenn jeder Mensch nur einen anderen Menschen glücklich machen würde – dann wäre die ganze Welt glücklich, und der Weltfrieden bräche aus. Sag mal, was hat es eigentlich mit diesem Schuppen auf sich? Ist es der da drüben unter den Schlingpflanzen? Sieht mysteriös aus. Mal ehrlich, was ist da drin?«
»Weiß ich nicht.«
»Frag deine Mutter doch mal.«
»Lieber nicht.«
»Dann mach ich’s.«
»Sie würde dir keine Antwort geben.«
»Na, ’ne Opiumhöhle wird sie da drin ja wohl nicht unterhalten. Was, wenn wir einfach mal nachsehen?«
»Das ist sogar nach europäischen Maßstäben ein Vertrauensbruch, nach kambodschanischen ein Sakrileg.«
»Nur wenn’s rauskommt. Es kommt aber nicht raus.«
»Ich vermute, der Schuppen ist ihr privater Gebetsort, und der ist heilig und tabu. Ich könnte meiner Mutter nicht mehr in die Augen sehen, ich würde mein Gesicht verlieren. Es gibt in der Heimat meiner Eltern wenig Schlimmeres, als das Gesicht zu verlieren. Das hat schon ganze Familien ruiniert. Die Schande der Kinder fällt nämlich auch auf die Eltern und umgekehrt.«
»Und das alles nur, weil man die Nase in einen Schuppen steckt?«
Er nickte, und sie setzten ihren Spaziergang fort.
Das Licht über dem Horizont war oxidiert, düster, und im Heidegras sangen die Zikaden. Eine intime Stimmung erfüllte den kleinen Kreis des Feuerscheins, in dem nur Timo und Vev saßen.
Vev massierte sich den Nacken.
»Darf ich?«, fragte Timo.
Vev lächelte und wandte ihm den Rücken zu. »Ein Klassiker unter den Anmachsprüchen am Strand. Bei Tage ist es die Sonnenmilch und nachts die Massage. Hast du kräftige Hände?«
»Wenn du es wünschst.«
»Leg los.«
Er hatte keine Ahnung vom Massieren, aber er tat, was er konnte. Vevs Haut war am Nacken leicht sommersprossig, braun und weich. Um den Hals trug sie den Anhänger mit dem keltischen Fruchtbarkeitssymbol, den Yasmin ihr geschenkt hatte.
»Wie ich sehe, denkst du an weitere Kinder.«
»Du meinst, das Ding wirkt?«
»Wer weiß?«
»Dann nimm es lieber ab«, sagte sie. »Sicher ist sicher.«
Sie lachten, und er steckte die Kette in seine Hosentasche, bevor er die Massage fortsetzte.
»Bist du eifersüchtig, weil Clarissa von Leonie und Philipp ins Bett gebracht werden wollte und nicht von dir?«, fragte Timo.
»Wer eifersüchtig auf Leonie ist, der ist ein zutiefst bedauernswerter Mensch«, antwortete Vev versonnen und leise. Sie hatte die Augen geschlossen und gab sich Timos Händen hin. »Clarissa mag neue Menschen in ihrem Leben, und sie hat gemerkt, dass ich dieser Tage nicht ganz bei der Sache bin. Sie möchte sich ihre Gutenachtgeschichte eben lieber von jemandem vorlesen lassen, der eine Handtasche so groß wie ein Seesack hat und geübt im Bau von Legotürmen ist, das ist völlig normal. Und Philipp liest nicht gerne. Von deinen Büchern kennt er nur die ersten paar Seiten. Willst du wissen, was er darüber gesagt hat?«
»Raus damit.«
»So wie andere sich durch ihre Bürohilfen ficken, fickt Timo sich durch die Literatur. Frag mich bitte nicht, was er damit gemeint hat. Vermutlich mag er deine Hauptfiguren nicht, all die Spinner und Säufer und Schläger und bürgerlichen Schlampen. Philipp steht auf klassische Helden, die den Thron der Tugend und Moral besteigen und vom Himmel dafür belohnt werden. Autoren haben in seinen Augen in einem Elfenbeinturm zu leben.«
»Sag ihm, den Elfenbeinturm gibt es nicht mehr. Google, Facebook und die Telekom haben ihn abgerissen. Und du? Was hältst du von meinen Figuren?«
»Ich finde, dass es früher, in heuchlerischer Zeit, nötig war, über Helden und Götter zu schreiben, um als Dichter anerkannt zu werden. Heutzutage darf man auch – man sollte es sogar – über Spinner und Schläger schreiben. Die Spinner haben den Platz der Götter eingenommen. Ich mag deine Figuren, sie sind unberechenbar. Berechenbarkeit ist langweilig, Mathematik ist unerotisch. Ich wäre gerne eine von deinen Romanfiguren.«
Er küsste sie auf den Nacken. »Wir leben aber nicht in einem Roman.«
»Das kann man nie wissen.«
»Du sagst immer so tolle, verrückte Sachen.«
»Ach wo, ich bin nur betrunken.«
Von hinten
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