Das Nebelhaus
vorgestrecktem Hals das Terrain, bevor ich einen Raum betrat. Ich huschte über den Flur ins Klo, huschte wieder zurück, huschte in die Küche, biss in aller Eile in ein Brötchen, achtete auf Geräusche, nippte am Tee, achtete auf Geräusche, huschte zur Tür hinaus … Nur wenn Yim bei mir war, entspannte ich mich ein wenig. Der Gedanke abzureisen kam mir ein- bis zweimal pro Stunde.
Ich verließ das Haus zeitig und blieb den ganzen Vormittag fort, um mich in Neuendorf und in der Inselhauptstadt Vitte ein wenig umzuhören. Eine Bäckereiverkäuferin und der zur Mittagszeit schon leicht angeschlagene Biertrinker am Nachbartisch des kleinen Cafés waren dankbare Informanten – allerdings auch die einzigen. Zuallererst erkundigte ich mich nach der Blutnacht und stellte die üblichen Fragen: Kannten Sie einige der Opfer? Wie waren sie denn so? Wie haben Sie die Tage nach dem Amoklauf erlebt? Welche Stimmung hat auf der Insel geherrscht? Hat es eine öffentliche Trauerfeier gegeben? Wie ist sie verlaufen? Hatte die grausige Tat langfristige Folgen für die Insel?
Sobald die Sprache auf Frau Nan kam, versuchte ich allerdings etwas über ihren Mann zu erfahren. Die Witwe Bolte hatte mir zwar schon ein bisschen was erzählt, Herr Nan war mir dabei allerdings zu gut weggekommen. Leider erfuhr ich nur wenig. Die Nans waren dezente Leute gewesen, weder beliebt noch unbeliebt, und ihre Wortkargheit schrieb man mangelnden Sprachkenntnissen zu, was jedoch – wie mir Yim versichert hatte – ein Irrtum war. Herr Nan hatte einige Jahre lang als städtischer Gärtner und als Hilfsarbeiter für das Gerhart-Hauptmann-Haus gearbeitet. Nach der Wende war er weiterbeschäftigt worden und Ende der Neunziger in Frührente gegangen. Seine mickrige Rente hatte er durch Schwarzarbeit aufgebessert, Heckenschneiden und dergleichen. In all den Jahren auf Hiddensee hatte er keine Freundschaften geschlossen, sich jedoch mit allen Leuten vertragen. Ähnliches galt für Frau Nan. Obwohl hier jeder jeden kannte, war den meisten Leuten bis vor zwei Jahren noch nicht einmal bekannt gewesen, dass sie im Nebelhaus gekocht und geputzt hatte. Irgendwie hatte dieses Paar es geschafft, trotz seiner exotischen Herkunft unauffällig zu bleiben.
Mit Yim war das völlig anders. Er war nicht nur Mitglied in drei Sportvereinen gewesen – wie der Biertrinker zu berichten wusste –, sondern auch Kopfballkönig der Schulmannschaft und einziger »Ausländer« in der Freiwilligen Feuerwehr. Dass er die Insel 1994 verlassen hatte, tat vielen Leuten leid, besonders der rundlichen Bäckereiverkäuferin, wie mir schien. Sie errötete und kicherte wie ein Teenager, als sie von ihm sprach.
Alles, was mit Yim zu tun hatte, gab mir in diesen Tagen ein gutes Gefühl. Ich lächelte, schmunzelte, dachte an Jonas oder Benny, an das Positive in meinem Leben. Yims Spuren folgte ich gerne, sie luden mich ein weiterzugehen. Ich erlebte keine Enttäuschungen mit dem, was ich über ihn erfuhr und an ihm entdeckte. Er schien alles richtiggemacht zu haben: Er hatte sich integriert und engagiert. Dass er ein eigenes Restaurant führte, zeigte ihn als Mann mit Freude zum kalkulierten Wagnis. Er hatte Humor, aber der vorzeitige Tod geliebter Menschen, die Grausamkeit des Lebens, hatte ihm jene Tiefe gegeben, die ihn so anziehend für mich machte.
Auch von seiner Mutter ging nach wie vor eine Faszination aus, der ich mich inzwischen bedenkenlos ergab. Ihren Spuren folgte ich genauso gerne wie Yims, wenngleich aus anderen Gründen. Sie war eine asiatische Sphinx, und ohne dass ich sagen konnte, wieso, schrieb ich ihr eine zentrale Rolle rund um den Amoklauf zu. Umso bedauerlicher fand ich es, dass mir die Erforschung des Schuppens verwehrt worden war.
Zufälligerweise lief ich an jenem Vormittag noch einmal am Schuppen vorbei und sah, dass an dem Riegel ein nagelneues Vorhängeschloss angebracht worden war.
Nachmittags ging ich mit Yim segeln. Er hatte sich das Boot eines alten Schulkameraden geliehen und mich eingeladen.
Unser schwereloses Dahingleiten auf dem Meer verstärkte alle in den letzten Tagen aufgebrochenen Stimmungen in mir, was umso merkwürdiger war, weil sich diese zum Teil widersprachen. Ich hatte das Gefühl, etwas Besonderes zu erleben. Noch nie hatte ich das Steuer eines Segelbootes in der Hand gehabt, noch nie hatte ich eine so aufwendige Recherchereise gemacht, noch nie hatte sich ein Mann auf Yims unvergleichliche Art um mich bemüht. Ich verspürte den
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