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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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Geh hin und weine ein bisschen, wenn dir danach ist. Ich bezweifle allerdings, dass es dir gelingen wird. Das einzige Mal, das ich dich habe weinen sehen, war damals, als du dir mit dem Hammer auf den Zeigefinger gehauen hast.«
    »Hör bitte auf damit, Vev«, bat Philipp. Seine Bemerkung bezog sich nicht auf den Streit, sondern auf das Whiskyglas, das sie zu einem Drittel füllte. »Immer wenn du trinkst, wirst du müde und traurig.«
    »Falsch«, antwortete sie ruhig, fast ermattet. »Ich trinke, weil ich müde und traurig bin. Nur damit du’s weißt: Heute habe ich weniger getrunken als sonst. Gibt es noch ein siebtens?«
    Mit einem Mal fiel alle Streitlust von ihm ab, und er wollte noch nicht einmal mehr Recht behalten. Er ging auf Vev zu und nahm sie in den Arm. »Es tut mir leid, ich … Ich weiß auch nicht, mir gefallen die Leute nicht, die ich mir da ins Haus geholt habe, und jetzt ärgere ich mich über mich selbst, und wenn ich mich über mich selbst ärgere, werde ich unausstehlich. Bitte entschuldige.«
    Er hob ihren Kopf leicht an und bemerkte den Glanz in ihren Augen. »Ach, du meine Güte, was habe ich bloß da wieder angerichtet?«
    »Was hast du denn angerichtet?«
    »Eine klare, salzige Flüssigkeit sammelt sich in deinen Augenwinkeln und wird dir gleich über die Wangen rinnen. Sie wird die Haut reizen, dein Gesicht wird anschwellen. Das diesen Vorgang auslösende Gefühl heißt vermutlich … Tja, wie heißt es nur, Vev? Hm, was ist los? Na, komm schon, sag. Liegt es an mir? War ich so ekelhaft?«
    »Ja«, sagte sie nach einigem Überlegen. »Aber ich war ja auch ekelhaft, das ist gar nicht der springende Punkt. Ich bin einfach … Ich habe …«
    Sie rang um Worte, während er danebenstand und vor Neugier und schwerem Herzen platzte. Am liebsten hätte er alles ungeschehen gemacht, alles, und zwar von dem Moment an, als Timo bei Facebook bei ihm angeklopft hatte. Er war sich sicher, dass Vev dann jetzt nicht weinend vor ihm stehen würde, dass es keinen Streit gegeben hätte und, ja, dass Morrison noch leben würde. Letzteres war nur ein unbestimmtes Gefühl, das er nicht belegen konnte.
    »Weißt du«, sagte Vev, »es ist nicht nur der Streit um Katzenbeerdigungen, Vogelschutzgebiete, die Nachbarn, eine Kindergärtnerin mit Colt und was weiß ich noch.«
    »Herrn Stadtmüller nicht zu vergessen.«
    »Es ist die Art, wie wir … wie ich …«
    In diesem Moment platzte Yasmin zur Tür herein. »Sagt mal, habt ihr auch Tofuschnitzel, Gemüsetaler oder sonst was in der Art? Mit Thüringer Würstchen kann man mich jagen.«
    »Auch aus der Küche?«, fragte Philipp, ohne eine Miene zu verziehen.
    Einige Sekunden lang verharrten die drei Menschen wie ein Standbild, es rührte sich keiner.
    Dann fragte Yasmin: »Sorry, habe ich gestört?«
    »Die Zeitform ist falsch gewählt«, erwiderte Philipp. »Statt dem Perfekt, solltest du es mal mit Präsens versuchen – falls du überhaupt weißt, was das ist.«
    »Das weiß ich sogar sehr gut«, gab Yasmin zurück und machte sich einen Zentimeter größer. »Ich …«
    Vev ging dazwischen. Sie führte Yasmin zum Kühlschrank und sagte: »Ich habe Halloumi da. Wie wär’s damit?«
    Frau Nan bemerkte den Brandgeruch in dem Moment, als sie den Schuppen verließ. Hastig, wie es sonst nicht ihre Art war, lief sie zum Haus, stieß die Tür auf und eilte durch die verqualmten Räume auf der Suche nach der Ursache des Rauches. Das Haus war alt, deshalb war es damals ja so billig gewesen. Frau Nan dachte an einen Kurzschluss des Fernsehers oder eines Küchengerätes, aber der Kurzschluss, auf den sie am Ende stieß, war völlig anderer Natur.
    In der Küchenspüle hatte jemand einen Scheiterhaufen aus alten Fotos errichtet und angezündet. Das Zerstörungswerk war getan, die letzten Überreste gingen gerade in dünnen Rauchfäden auf, tiefschwarz wie die Trauer, beißend wie Zorn.
    Frau Nan öffnete alle Fenster. Einige Minuten lang wartete sie draußen zwischen den Gladiolen und sah die Vergangenheit aus allen Öffnungen des Hauses quellen und sich in den gemächlich dunkelnden Himmel über Hiddensee verteilen. Herr Nan war nirgends zu sehen, aber sie wusste, dass er irgendwo in der Nähe war und sie beobachtete.
    Wieder drinnen, griff sie zitternd in den erkalteten Aschehaufen und zog ein kleines, unversehrtes Stück Papier hervor. Es handelte sich um das rechte obere Eck eines Fotos, das ihr Elternhaus zeigte. Der First aus Palmblättern war noch zu erkennen, das

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