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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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verhielten sich, als lebten sie noch in der sogenannten guten alten Zeit. Am Morgen des 6. Septembers 2010 waren sie sehr unsanft aus ihrem Traum gerissen worden. Ein Amoklauf, vier Schüsse, drei Tote – und ein ganzes Jahrhundert war in einer Nacht übersprungen worden.
    »Sag mal, hast du eigentlich noch Kontakt zu den anderen überlebenden Opfern und Angehörigen? Unterstützt ihr euch gegenseitig?«
    Ich sah ihm an, dass meine Frage ihn enttäuschte. Er hätte am liebsten gar nicht mehr über den Vorfall gesprochen, darin glich er den Inselbewohnern. Sie verstanden die Welt nicht mehr und wollten daher nichts von ihr wissen. Ich konnte sie und auch Yim gut verstehen, aber ich musste meiner Arbeit nachgehen.
    »Wieso fragst du mich das?«
    »Weil ich von allen Beteiligten die Adresse und Telefonnummer habe, nur von Yasmin Germinal nicht, und ich dachte, du könntest …«
    »Darauf hat meine Frage nicht abgezielt. Warum fragst du mich das?«
    »Weil ich gehört habe, dass ihr zusammen spazieren gegangen seid. Da ist es nicht weit hergeholt, anzunehmen, dass du ihre Adresse und Telefonnummer hast.«
    »Übernimm bitte kurz das Steuer, einfach nur festhalten. Ich muss wenden.«
    Er sprang aufs Vorderdeck, hantierte hochkonzentriert mit allerlei Stangen und Seilen und war zwei Minuten lang in einer ganz anderen Welt, einer Welt ohne Schüsse und Traumata.
    Als er wieder zurückkam und das Steuer übernahm, machte er gar nicht erst den Versuch, das Thema zu übergehen, was ich ihm hoch anrechnete. Es wäre mir schwer gefallen, noch einmal damit anzufangen.
    »Du vergisst«, sagte er, »dass kurz nach unserem Spaziergang etwas passiert ist, das unser Leben auf den Kopf gestellt hat. Kannst du dir vorstellen, dass wir etwas anderes zu tun hatten, als unsere zwei Tage alte Bekanntschaft zu pflegen?«
    »Sag doch einfach, wenn du die Kontaktdaten nicht hast.«
    »Ich habe die Kontaktdaten nicht.«
    Ich akzeptierte seine Antwort. Ich hielt Yim für einen ehrlichen Menschen, zumindest für jemanden, der um Ehrlichkeit bemüht war.
    »Schade«, seufzte ich. »Du warst meine letzte Hoffnung. Yasmin Germinal ist wie vom Erdboden verschluckt. Man könnte meinen …« Ich hielt inne, erschrocken von meinem eigenen Gedanken.
    »Was könnte man meinen?«, hakte Yim nach.
    »Dass sie nicht mehr am Leben ist.«
    Ihn schien dieser Gedanke ebenso zu irritieren wie mich, wenngleich er bemüht war, sich das nicht anmerken zu lassen.
    »Nach allem, was ich weiß«, sagte Yim, »war Yasmin wie eine Glucke, wenn es um ihre Daten ging. Sie war nicht bei Facebook, hatte keine E-Mail-Adresse … Sie hat nichts von dieser Art Vernetzung gehalten. Du weißt schon, Big Brother is watching you und so weiter. Das dürfte sich in den letzten zwei Jahren kaum geändert haben.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Nimm es hin, wie es ist. Sie würde vermutlich sowieso nicht mit dir reden wollen. Sie will einfach nur ihre Ruhe. Verstehst du das? Wir wollen alle unsere Ruhe. Wir wollen nicht mit Hinz und Kunz darüber sprechen, allenfalls mit Therapeuten, und was wir denen anvertrauen, das geht dich gar nichts an. Kannst du dich eigentlich nur darüber unterhalten?«
    »Nein, aber ich bin deswegen mit auf die Insel gekommen, daraus habe ich nie einen Hehl gemacht.«
    »Einverstanden. Nur ist das der einzige Grund, weshalb du noch immer auf der Insel bist?«
    Wir sahen uns an. Die Antwort blieb mir fast im Hals stecken. »Nein«, sagte ich, und ich sagte es gerne und mit springendem Herzen.
    Er lächelte, als hätte ich ihm gerade eine Eins gegeben. Von einer Sekunde zur anderen hatten sich wieder einmal alle Wolken über seinem Gemüt verzogen, und die Sonne schien wonnig wie im Mai.
    Wie hätte ich mich auch nur einen Augenblick lang über Yim ärgern können, weil er leicht schroff geworden war? Wie hätte ich ihm böse sein können, weil er das Thema immer wieder abwürgte? Wie gut ich ihn verstand. Besser gesagt, wie gut ich ihn verstehen wollte !
    Die Nachricht von Bennys Tod hatte ich in meinem Kinderzimmer erhalten, in vertrauter Umgebung, überbracht von meinen liebenden, trauernden Eltern. Meine Freundinnen und Klassenkameradinnen hatten sich rührend um mich gekümmert, ein Jahr lang war ich zu so ziemlich jedem Kindergeburtstag im Umkreis von vier Kilometern eingeladen worden. Ich hatte Benny nie tot gesehen. So wurde er zwar zum Gespenst für mich, aber nicht zur Leiche. Für Yim war es ganz anders. Wer war für ihn da gewesen?

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