Das Nebelhaus
Wunsch, das Neue in meinem Leben zuzulassen. Minuten später lag mir das Steuer schwer in der Hand. Die rasante Fahrt, das aufgeblähte Segel und das kleine, im Angesicht des weiten Meeres zerbrechlich wirkende Boot stellten plötzlich eine Gefahr für mich dar. Die Kräfte der Natur um mich herum verbündeten sich mit denen der Natur in mir, und Angst wehte mich an. Ich musste Geld verdienen. Ich konnte mir den Luxus langwierigen Nachforschens nicht leisten, vom Müßiggang ganz zu schweigen. Sekunden später war die Angstattacke vorbei.
»Kurs halten«, sagte Yim, der um den Mast herumtanzte, mindestens dreißig Handgriffe pro Minute absolvierte und den Dreihundertsechzig-Grad-Radius um das Boot im Auge behielt.
»Aber da vorne kommt einer auf uns zu«, wandte ich ein.
»Er wird ausweichen, wir haben Vorfahrt.«
»Was, wenn er das nicht weiß?«
»Dann hätte ich wohl besser auf dich gehört.«
»Ein schwacher Trost.«
»Die Fahrt macht dir keinen Spaß, oder?«
»Doch, schon. Wirklich, es ist toll, aber … Kannst du das Steuer bitte wieder übernehmen? Es wird mir unheimlich.«
Yim sprang neben mich, griff nach dem Steuer, winkte einem vorbeigleitenden Mann mit Seemannsmütze zu, schätzte mit einem prüfenden Blick auf den Mastwimpel den Wind ein und korrigierte den Kurs.
»Du segelst gut«, lobte ich ihn.
»Ich segele so, wie du Auto fährst: unfallfrei, aber ein bisschen holprig. Auf dem Meer fällt es bloß nicht weiter auf.«
Ich lachte. Für souveräne Männer, die ihr Können nicht wie eine Monstranz vor sich hertrugen, hatte ich schon immer viel übrig gehabt. Bei Yim kam seine Verwundbarkeit hinzu, die stets anwesend war, auch wenn sie schlief. Ich glaube, als wir dort am Steuer Seite an Seite standen, fing ich an, ihn zu begehren. Vorher hatte ich nur mit der Vorstellung kokettiert, es könnte passieren, jetzt wurde die Vorstellung konkret. Sein Blick gab mir zu verstehen, dass es ihm genauso ging. Als ich meine Hände neben seine auf das Steuerrad legte und er mich anlächelte, war die Symbolik eindeutig: Wir würden zusammenkommen, irgendwie, schon sehr bald.
Minutenlang schwiegen wir, während uns die Gischt um die Ohren flog.
Vielleicht um irgendetwas zu sagen, vielleicht aber auch, um mein Leben und meine Vergangenheit von Grund auf kennenzulernen, fragte er: »Sag mal, Doro kommt von Dorothea, richtig?«
»Nur für das Einwohnermeldeamt heiße ich so.«
»Verstehe. Ich habe Abkürzungen und Verniedlichungen immer gescheut. Das liegt wohl daran, dass ein paar Jungs mich in meinen ersten Jahren auf Hiddensee Mini-Yimi genannt haben. Damals war ich noch ziemlich klein, ich bin erst später in die Höhe geschossen.«
»Mit den Mädchen hattest du wohl weniger Probleme, hm? Übrigens, bevor ich es vergesse: Ich soll dich von Bente Wohlfahrt grüßen. Sie war mit dir zusammen Klassensprecherin, verkauft Backwaren in Vitte und ist übrigens noch zu haben. Letzteres hat sie mir zwar nicht zur Übermittlung aufgetragen, aber sie schien mir erleichtert zu sein, als ich erwähnte, dass ich nicht deine Freundin, sondern nur eine Bekannte bin. Lass mich raten: Sie hat dich nie Mini-Yimi genannt.«
Er lächelte. »Nein, das hat sie nicht. Bente ist sehr nett. Wenn ich beim Joggen im Laden vorbeikomme, mogelt sie mir immer eine Zuckerschnecke mit in die Tüte, egal was ich einkaufe, und wenn’s nur eine Schrippe ist. Da sie den Laden ohnehin eines Tages von ihren Eltern erben wird, habe ich nichts dagegen, dass sie klaut.«
»Die Schnecke ist vermutlich ihre Art, dir zu sagen, dass sie auf dich wartet.«
Er ließ sich meine Worte durch den Kopf gehen. »Vielleicht.«
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie altmodisch Hiddensee in mancherlei Hinsicht war. Eine Frau gestandenen Alters, die dem heimlich Angebeteten ein Backwerk zuschob und von September bis Juli auf den zwölften Monat wartete, den August, wenn er ein paar Wochen in ihrer Nähe verbrachte – das hätte bei Fontane stehen können. Aber es geschah im Jahr 2012. Umso größer musste der Schock der Blutnacht gewesen sein.
Sicherlich, an jedem Ort in Deutschland würde man erstarren vor Entsetzen, wenn dergleichen dort passieren würde, und die Trauer wäre überall groß. Auf Hiddensee jedoch kam hinzu, dass es der gewaltsame Einbruch einer anderen Zeit war. Auf der Insel gab es weder Autounfälle noch Vergewaltigungen und so gut wie keine Wohnungseinbrüche. Manche Insulaner schlossen über die Nacht nicht mal die Haustür ab. Sie
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