Das Nebelhaus
üblich. Und …«
Das Telefon klingelte. Philipp sah auf die Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Wer ruft denn am Wochenende um Viertel vor acht an?«, sagte er zu sich selbst, bevor er das Telefon von der Ladestation nahm.
»Lothringer.«
»Hallo? Bin ich dort bei Lothringer?«
Die Stimme der Frau war ihm unbekannt. »Ja, hier ist Lothringer«, wiederholte er.
»Philipp Lothringer?«
Er hatte seinen Namen in den letzten Sekunden so oft gehört, dass es ihn fast schon ein bisschen nervte.
»Ja«, seufzte er. »Philipp Lothringer. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Leonies Mutter. Korn mein Name, Margarete Korn.«
»Frau Korn, wie nett«, sagte er in deutlich freundlicherem Ton. Er kannte die Frau nur von einem Foto, das damals in Leonies Berliner Wohnung gehangen hatte. Die Gruppenmitglieder hatten sich an jedem letzten Freitag eines Monats abwechselnd in ihren Wohnungen getroffen und die nächsten Aktionen geplant. Bei Leonie hatte er sich nie wohlgefühlt: schwere Stores an den Fenstern, Polstermöbel in gedeckten Farben, ein massiver Eichenholzschrank von der Größe eines Fußballtores – alles ein bisschen wie in dem engen Zuhause seiner Kindheit, nur sauberer. Irgendwo an der Wand hing verloren das trübselige Foto von Leonies Mutter, die krampfhaft zu lächeln versuchte, dabei aber eher wie eine Schlaganfallpatientin wirkte: eine korpulente Frau mit rosa Haut und einem dünnen weißlichen Haarflaum, vorzeitig gealtert, allein vor einer Hecke. Die andere Hälfte des Fotos war abgerissen worden, und nur des ramponierten Zustandes wegen konnte Philipp sich noch so gut daran erinnern.
»Ich habe Sie über die Auskunft gefunden«, sagte Frau Korn entschuldigend. »Ich wusste noch, dass Ihr Name eine französische Provinz enthält. Zuerst dachte ich Elsässer. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich anrufe.«
Ihre Stimme hörte sich plötzlich an, als würde sie jeden Augenblick entzweibrechen.
»Nein, nein, das stört mich nicht.« Er sah noch einmal auf die Armbanduhr. »Aber Ihre Tochter schläft noch.«
»Schade.«
»Haben Sie es schon auf dem Handy versucht?«
»Ja …«
Philipp hörte, wie ein Aber sich zu formen begann, doch es blieb aus. »Ich richte ihr natürlich aus, dass Sie angerufen haben.«
»Danke …«
Wieder ein stummer Gedankenstrich hinter Frau Korns Worten.
»Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«, fragte er.
»Nein. Und bei Ihnen?«
Diese Frage kam ihm nun reichlich seltsam vor, selbst die Vermutung in Rechnung gestellt, dass Frau Korn über siebzig Jahre alt und leicht schusselig sein könnte.
»Uns geht’s gut«, antwortete er höflich, man könnte auch verlogen sagen. Leonie hatte ihre Pistole verloren, Vev hatte Leonie geohrfeigt, Philipp konnte Leonie nicht leiden. »Wir haben gestern einen Fahrradausflug gemacht«, erzählte er, »und Leonie versteht sich gut mit meiner kleinen Tochter.«
»Sie haben eine Tochter?«
»Clarissa ist fünfeinhalb, fast sechs. Leonie und sie sind beste Freundinnen geworden.«
»Ach …«
»Ja …« Diese unvollständigen Sätze brachten ihn völlig aus dem Konzept. Nun redete er schon wie Frau Korn. »Jedenfalls … am besten, Leonie erzählt Ihnen das alles selbst.«
»Vielleicht ist es besser, wenn … wenn Sie ihr nicht sagen, dass ich angerufen habe. Sie ist ein bisschen …«
Stille in der Leitung.
Er atmete tief durch. »Ein bisschen was, Frau Korn?« fragte er mit der Geduld einer Zeitbombe.
»Ein bisschen empfindlich, verstehen Sie? Ich will nicht, dass sie glaubt, ich spioniere ihr nach. Ich versuche es einfach weiter über das Handy. Außerdem …jetzt, da ich weiß, dass es Leonie gut geht … Entschuldigen Sie nochmals.«
Philipp war nach diesem anstrengenden Telefonat beunruhigt. Es hatte damit zu tun, dass Frau Korn ihn wieder an diese vermaledeite Pistole erinnert hatte, die in seinem Hinterkopf spukte. Er stellte an sich selbst fest, mit welcher Aufmerksamkeit er durch die Zimmer ging, wie er die Möbel betrachtete, immer in der Erwartung, etwas zu entdecken, das dort nicht hingehörte. Es war, als hätte sich eine Schlange ins Haus geschlichen.
Eigentlich hatte er sich vorgenommen, es nicht zu tun, aber nach diesem seltsamen Anruf sprach er kurzentschlossen Frau Nan auf die Pistole an. Vielleicht hatte sie ja etwas gesehen und – es weggeworfen? Eine unwahrscheinliche Theorie, aber die anderen Theorien waren zu schwer erträglich, um sie zu Ende zu denken.
Frau Nan hatte die Angewohnheit,
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