Das Nebelhaus
Seine Lebensgefährtin lebte nicht mehr, und sein Vater schien mir in Sachen Trauer und Trost ein Totalausfall zu sein. Nicht zu vergessen: Yim hatte seine tödlich verwundete Mutter aufgefunden und in den Armen gehalten, ein Bild, das sich unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt hatte. Ganz zu schweigen von der Angst, die er in jenem Augenblick gefühlt haben muss. Schließlich konnte er nicht wissen, wo der Mörder war.
»Wir sind am Ziel. Ich hole das Segel ein.«
»Am Ziel? Wir sind mitten auf dem Meer.«
»Siehst du den Küstenabschnitt dort vorne? Das ist das Vogelschutzgebiet, der südlichste Zipfel von Hiddensee. Mit ein bisschen Glück kann ich dir die ersten Graureiher der Saison zeigen, Zugvögel, die bald erwartet werden. Ich habe ein Fernglas dabei … und zufällig auch etwas zu essen und zum Anstoßen. Hast du Lust?«
»Und wie.«
Er holte das Segel ein und verschwand unter Deck.
Das Boot schunkelte auf den seichten Wellen, es gluckste, sein Weiß strahlte, als wäre es eine Energiequelle. Ich schloss die Augen und lehnte mich zurück, und ein paar Atemzüge lang war ich unbeschwert, vom Meer in einen Traum gewiegt. Yim hatte das Talent, mich von meiner Arbeit wegzuholen, er bemühte sich sehr darum. Seinetwegen – allein durch seine Nähe – fand ich allerdings auch immer wieder schnell dorthin zurück. Diesmal war es ein Schlüsselbund neben dem Steuer, der meine Neugier erregte. Mehr als ein Dutzend Schlüssel bildeten eine silbrige Korona, und zwei davon gehörten zu Vorhängeschlössern. Sie waren identisch, nagelneu, blitzten in der Sonne und waren von derselben Marke wie das neue Vorhängeschloss am Schuppen.
Ich hatte bisher angenommen, dass Herr Nan das Schloss angebracht hatte. Nun war ich mir dessen nicht mehr sicher.
Es gelang mir, einen der beiden Vorhängeschlüssel an mich zu nehmen, bevor Yim mit einer Tüte Leckereien an Deck kam.
»Ich habe Gurkensandwiches gemacht, außerdem zwei, drei Tapas, einen kleinen Zitronenkuchen und Mousse au chocolat. Zugegeben, man bekommt schon Sodbrennen, wenn man die Zusammenstellung nur erwähnt …«
»Ich find’s toll.«
»Dazu gibt’s Rotkäppchensekt zum Runterspülen. Ein volles Glas für dich, ein halbes für mich. Ich bin lieber vorsichtig. Betrunkene Kapitäne kommen schnell in die Nachrichten.«
Auf dem geliehenen Boot, ein Gurkensandwich in der einen und Rotkäppchensekt in der anderen Hand, kam ich mir vor wie ein Mitglied der High Society. Gleichzeitig fühlte ich mich schäbig. Ich hatte Yim bestohlen, hintergangen, und wenn ich eine Gelegenheit bekommen hätte, den Schlüssel wieder an dem Bund zu befestigen – ich hätte es getan. Nur die Gelegenheit kam nicht. Der Schlüsselbund verschwand in seiner Jacke, die Jacke in einem Rucksack, der Rucksack unter Deck, und ehe ich es mich versah, trennten mich drei Verteidigungslinien von einem guten Gewissen. Ich hätte ihm sagen müssen, was ich getan hatte, doch das schaffte ich einfach nicht.
Wir aßen, und zwischendurch zeigte Yim mir die gefiederte Fauna des Schutzgebiets durch das Fernglas. Ich war zunächst nur halb bei der Sache, aber er hatte eine lockere Art, die mir das Vergessen leicht machte – wer weiß, die es vielleicht auch ihm leicht machte. Nach einer Viertelstunde war ich keine Diebin mehr, sondern eine Frau, die endlich einmal wieder verwöhnt wird und die sich nur zu gern verwöhnen lässt.
Als ich zwischen zwei Löffeln Mousse eine Bewegung im Vogelschutzgebiet wahrnahm, setzte ich erneut das Fernglas an. Siehe da, zwei Menschen gingen dort spazieren, ein Mann und eine Frau. Wie Vogelschützer sahen sie mir nicht aus, es sei denn, Vogelschützer gehen des Öfteren Hand in Hand. Sie ließen sich an einem nur vom Meer einsehbaren Küstenabschnitt nieder und starteten ein Liebesgeplänkel, dessen weiteren Fortgang ich aus Gründen der Diskretion nicht verfolgte.
Im Nachhinein kam mir dieses Pärchen wie ein Spiegelbild vor. Nur Sekunden, nachdem ich das Fernglas beiseitegelegt hatte, setzte sich Yim neben mich. Er küsste mich ohne Zurückhaltung und dennoch zärtlich. Dass mir der Kuss wie der schönste in meinem Leben vorkam, lag vielleicht auch am Meer, an dem sanften Auf und Ab, an der Sonne und dem Wind, den Strömungen und dem Treibenlassen, an der Schwere des zu Ende gehenden Sommers, die zum Küssen einlud.
Obwohl er lang war, dieser Kuss, dauerte er mir nicht lange genug. Yim hätte gerne weitergehen dürfen, aber das wäre dann nicht mehr er
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