Das Nebelhaus
gewesen, so viel wusste ich schon von ihm. Er wollte sich vorher sicher sein, und das war mir nur recht.
»Das wollte ich dir noch sagen«, meinte er.
Ich sah ihn lange an und erwiderte: »Gut gesagt.«
16
September 2010
Philipps erster Blick nach dem Erwachen ging stets nach rechts, wo der Wecker auf dem Nachttisch tickte. Am Morgen des fünften September wachte er um sechs Uhr vierundfünfzig auf. Die Weckzeit war auf sieben Uhr programmiert, immer, sie änderte sich nie. Für Philipp war es der erste Wettbewerb des Tages, ein Wettbewerb mit dem Wecker oder vielleicht auch mit der Zeit, und an diesem Morgen hatte er ihn – wie meistens – gewonnen.
Ein Siegerlächeln auf den Lippen, wandte er den Kopf nach links. Vev schlief noch. Zwischen ihnen gab es die Übereinkunft, dass sie an fünf Tagen in der Woche früh aufstand und sich um Clarissa kümmerte und Philipp an den übrigen zwei Tagen. Heute war Philipp dran. Er küsste Vev auf die von schwarzen Haaren bedeckte Wange und betrachtete sie voller Liebe, aber auch mit ein wenig Skepsis.
Dann stand er auf. Als er angezogen aus dem Bad kam, lauschte er auf Geräusche im Haus; es war vollkommen still. Diese Ruhe war für ihn das Größte. Darin lag die Ordnung, die er brauchte, um arbeiten zu können, und wenn er sein Atelier betrat, den höchsten Punkt des Hauses, und in einem einzigen Rundumblick die Dünen und das Meer erfasste, war er davon überzeugt, dass ihm alles gelingen könne. Auch an diesem Tag ging er kurz ins Atelier. Er lief einmal die dreieckige Fensterfront ab, atmete tief durch und rechnete in Windeseile aus, in wie vielen Stunden seine Gäste abreisten. Er kam auf achtundzwanzig.
Etwas später streckte er den Kopf in Clarissas Zimmer. Sie war gerade dabei, das achtzehnte Katzenbild hintereinander zu malen. Der Teppichboden war übersät von Morrisons.
Sie sah ihn an. »Papa, warum hat der liebe Gott Morrison zu sich geholt?«
Er nahm sie in den Arm. »Das war ein Unfall, Stupsi. Deswegen müssen wir immer vorsichtig sein. Und deswegen will ich auch nicht, dass du gefährliche Sachen machst. Einer Katze kann man das nicht verbieten. Auf Bäume zu klettern liegt in ihrer Natur.«
»Runterzufallen auch?«
»Na ja, das passiert manchmal, wenn man gefährlich lebt. Das ist der Preis.«
»Dann ist Morrison also selbst schuld?«
»Tja, gewissermaßen schon. Er war unvorsichtig.«
»Timo sagt, dass der Morrison vielleicht totgeschlagen worden ist.«
»Das hat er dir gesagt?«
»Nein, zur Mama hat er das gesagt.«
»Timo ist ein Geschichtenerzähler. Manche seiner Geschichten sind gut, andere sind schlecht. Das war eine sehr schlechte Geschichte, die er Mama da erzählt hat. Denk nicht mehr dran. Warst du schon im Bad? Nein? Also ab mit dir, Zähne putzen, Gesicht und Hände waschen. Ich verlass mich drauf, dass du das alleine kannst. Ziehst du heute für mich das gelbe T-Shirt mit den drei Katzen drauf an? Und wenn du gewaschen und angezogen bist, weckst du Mama, ja? Sag ihr aber bitte nicht, dass ich dich geschickt habe.«
»Darf ich nachher mit Leonie spielen?«
»Erst, wenn sie wach ist.«
Philipp ging die Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss, wo es nach Zitronenreiniger roch und leise Geräusche aus der Küche kamen – sichere Zeichen für Frau Nans Anwesenheit.
»Guten Morgen, Frau Nan, so früh heute?«
»Ich habe Sie gestern am Strand grillen sehen und dachte mir, Sie wollen das Geschirr sicher schnell weggespült haben.«
An das Lagerfeuer wollte Philipp nur ungern erinnert werden. Er war bereits auf dem besten Weg zu vergessen, dass es je gebrannt hatte. Bereits unmittelbar nachdem sie gegen elf Uhr nachts das Feuer gelöscht hatten, hatte er den Verdrängungsprozess eingeleitet und eine halbe Stunde damit verbracht, die Spuren der Missetat zu beseitigen. Nicht den kleinsten Ascherest hatte er am Strand zurückgelassen, alles hatte er in einen großen Eimer gefüllt und in den Abfall geworfen, als die anderen es sich schon wieder in seinem Haus gemütlich gemacht hatten. Dass Frau Nan etwas von dem Lagerfeuer mitbekommen hatte, war ihm unangenehm.
»Sie sind die Beste, Frau Nan. Ganz ehrlich, einer so tüchtigen Haushaltshilfe bin ich noch nie begegnet. Übrigens, Clarissa wäscht sich gerade alleine im Bad, und wir wissen ja, wie es dort danach aussieht.«
»Ich gehe nach oben, sobald ich hier fertig bin.«
»Danke. Es reicht, wenn Sie am Dienstag wiederkommen. Das Geld lege ich Ihnen auf den Brotkasten, wie
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