Das Nebelhaus
während sie zuhörte, nicht auf das Gehörte zu reagieren. Anderen Menschen sah man wenigstens zeitweise an, was sie von dem hielten, was man von sich gab. Bei Frau Nan war dies nicht der Fall. Man musste warten, bis man zu Ende geredet hatte, um irgendeine Reaktion zu erhalten. Möglicherweise, so überlegte Philipp, war das Frau Nans Methode, andere zu zwingen, sich kurz zu fassen.
Er fasste sich kurz, Frau Nan ebenso. Sie vollzog erst eine energische Bewegung mit dem Kopf nach links und dann nach rechts, sodass der schieferfarbene Haarknoten, der wie eine Kuppelkirche auf ihrem Haupt ruhte, hin und her wackelte.
»Danke«, sagte er in Ermangelung einer Alternative.
Als sein Blick ihr beim Verlassen der Küche folgte, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass er so gut wie nichts über das wusste, was sich jenseits dieses Hauses in ihrem Leben ereignete. Ihren Mann kannte er nur vom Sehen, und was Yim betraf, der verlor nie auch nur ein Wort über seine Eltern, gerade so als schäme er sich ihrer oder als fürchte er, sich zu verplappern.
»Du könntest ruhig mal zurückrufen. Ich verstehe ja, dass du viel um die Ohren hast, aber die zwei Minuten wirst du für mich doch übrig haben, oder?«
Leonie lehnte halb aufgerichtet im Bett und sprach mit Steffens Anrufbeantworter.
»Ich versuche es jetzt zum vierten oder fünften Mal seit meiner Abreise. Bist du beleidigt, oder was? Ich werde doch einmal ohne dich unterwegs sein dürfen. Du fährst andauernd ohne mich irgendwohin, da sage ich ja auch nichts. Übrigens ist das Wochenende hier ein Desaster, ich fühle mich überhaupt nicht wohl, im Gegenteil, Vev ist eine Zimtzicke und Whiskydrossel, Philipp ein Prahlhans und Yasmin etwas, das man nicht beschreiben kann. Und dieses dämliche Kind hängt wie eine Klette an mir. Ich könnte wirklich eine paar liebe Worte vertragen, nur gerade dann, wenn ich dich brauche, spielst du die beleidigte Leberwurst. Ich habe dich in den letzten Tagen echt vermisst. Aber so geht’s nicht. Jetzt bist du mal dran.«
Sie beendete den Anruf und warf das Handy auf die Bettdecke. »Steffen kann so ein Arsch sein«, sagte sie zu sich selbst.
Nach einer Minute schüttelte sie den Ärger jedoch ab und nahm Timos Buch in die Hand. Das Lächeln, mit dem sie das tat, galt weit mehr dem Autor als dem Roman. Sie war auf Seite einhundertachtundachtzig, mehr als die Hälfte war gelesen, und sie verstand immer noch nicht so richtig, worum es ging. Wie bei dem Titel Der Säufer nicht anders zu erwarten, war ein Trinker die Hauptfigur. Ein erfolgreicher Geschäftsführer gerät in eine Lebenskrise, als seine zwanzigjährige Tochter ermordet wird. Er schwört ihrem Mörder, den man nicht kennt, Rache und macht sich auf die Suche nach ihm. So weit, so gut. Mal schwankend vor Trunkenheit, mal zitternd vor Nüchternheit stolpert er einhundert Seiten lang durch die wohlhabendsten Stadtviertel von Berlin und legt sich mit fast jedem an.
Weiter war Leonie nicht gekommen. Sie hatte ein Problem mit der Aggressivität in dem Roman, der Text war trotz der bürgerlichen Fassade voll davon, und das war nicht ihr Ding. Wenn schon Krimi, dann bevorzugte sie Detektive wie Inspektor Barnaby, sanfte Typen, die in hübschen, kleinen Dörfern oder in altehrwürdigen Universitäten ermittelten und ihre Verhöre beim Tee durchführten. Am meisten aber mochte sie Liebesromane.
Anstelle von Eifer legte die Leserin an diesem Morgen Verbissenheit an den Tag. Sie war fest entschlossen, das Buch noch an diesem Wochenende auszulesen – und es letztendlich hervorragend zu finden. Ein anderes Urteil kam gar nicht in Frage. Danach käme sofort Der Spinner dran, der natürlich noch herausragender und ausgereifter sein würde, das stand jetzt schon fest. Auf beide Bücher hatte sie bereits einen gelben Smiley geklebt.
»Timo ist mein einziger Freund auf dieser Insel«, kritzelte sie eine Stunde später auf ein Stück Papier. »Es bahnt sich etwas an.« Sie faltete es zusammen und steckte es in ihre Handtasche.
Danach ging Leonie duschen. Sie trällerte ein Lied von Celine Dion, immer nur den Refrain, wieder und wieder, während das Badezimmer sich in ein Dampfbad verwandelte und die Tropfen am Spiegel herunterliefen. Eine Viertelstunde später empfand Leonie sich als gereinigt. Einer spontanen Eingebung folgend, trocknete sie sich nicht ab, sondern zog Vevs Morgenmantel an, der an einem Haken hing. Er war schwarz wie ein Jesuitengewand und passte ihr erstaunlich gut, obwohl Vev
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