Das Netz der Schattenspiele
zwei Tagen nach einem Verkehrsunfall mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Bostoner Massachusetts General Hospital eingelieferte MIT-Professor Arthur Meredith Lloyd ist heute Nacht verstorben. Lloyd war zur Stützung seiner Vitalfunktionen mit einem Lebenserhaltungssystem verbunden, das von einem zentralen Überwachungscomputer gesteuert wird. Aus bisher ungeklärten Gründen hat das erst kürzlich in Betrieb genommene Computersystem die Versorgung des Patienten etwa gegen Mitternacht selbsttätig eingestellt. Die Leitung des Krankenhauses kann sich den Vorfall nicht erklären. Es konnten bisher keinerlei technische Defekte an den Apparaturen festgestellt werden. Zur gleichen Zeit befanden sich noch elf weitere Patienten auf der Intensivstation. Sie waren an identische Systeme angeschlossen. Alle anderen Geräte arbeiteten einwandfrei. Der Überwachungscomputer ist so programmiert, dass nach Auftreten des geringsten Fehlers ein Alarm ausgelöst wird. Doch auch dieser unterblieb. Professor Lloyd starb, bevor noch die tödliche Panne entdeckt werden konnte. Das MIT trauert um einen großen Wissenschaftler.
»Dafür, dass er so angesehen war, hat er sich aber ziemlich skrupellos verhalten«, kommentierte Benny die Nachricht ohne großes Bedauern.
Salomon zuckte die Schultern. »Gib’s auf, dich über solche Dinge zu wundern. Ich weiß noch, wie im Juni ‘97 bei uns zu Hause die Zeitungen über den ›größten Wissenschaftsbetrug Deutschlands‹ berichteten. War eine seltsame Sache damals. Und hat mich zu dieser Zeit sogar ziemlich erschüttert. Im Max-Delbrück-Zentrum wurden wissenschaftliche Ergebnisse der Genforschung gefälscht und von anderen Wissenschaftlern kopiert. Die Forscher in dem Institut haben diese Plagiate einfach als eigene Arbeitsergebnisse ausgegeben. Gerade vorher habe ich mich mit Stella darüber unterhalten: Es gibt so viele Beweggründe, die Menschen gegen alle ethischen Prinzipen handeln lassen! Beim Max-Delbrück-Zentrum war es wohl einfach der Erfolgsdruck. Die wissenschaftlichen Institute stehen heute in einem immer härter werdenden Wettstreit untereinander. Um sich die Gunst der Sponsoren zu erhalten, müssen sie Erfolge vorweisen. Nach allem, was mir Stella erzählt hat, trieben Professor Lloyd aber wohl eher die Geldgier und das Streben nach Macht.«
Benny nickte. »Das hat schon viele vom rechten Weg abgebracht.«
Stella blickte starr vor sich hin. »Komisch nur, dass ausgerechnet ein Computer das Lebenslicht des Professors ausgeknipst hat. Klingt fast nach der späten Rache Brainars.« Sie schüttelte sich, um ein Frösteln zu vertreiben. »Und ich dachte, nach der Demontage des Brain Array hätten wir endlich Ruhe.«
Epilog
Die Einladung beim Präsidenten der Vereinigten Staaten gehörte wohl zum Aufregendsten, was Stella je erlebt hatte. Gemeinsam mit ihren Eltern war sie schon am Samstag früh in Washington, D. C. eingetroffen. Seit sie das Bostoner Krankenhaus hatte verlassen dürfen, waren neun Tage vergangen, neun erholsame und wunderschöne Tage auf dem Anwesen ihres verstorbenen Großvaters in Branford, Connecticut. Viviane hatte sich entschlossen, den Besitz doch nicht zu verkaufen.
Der Aufenthalt in dem großzügigen Landhaus brachte Erinnerungen an bessere Zeiten zurück und Stella erfuhr zum ersten Mal, wie sehr sogar Salomon seine Schwiegereltern vermisste. Er hatte inzwischen gelernt, seine Gefühle offener auszusprechen.
In dieser neuen Freimütigkeit führten er und auch Viviane zahlreiche Gespräche mit ihrer Tochter. Sie machten Stella begreiflich, wie gering ihr Anteil an den schrecklichen Computervorfällen der letzten Wochen gewesen war: Sie hatte das Kagee aus dem Chaos »entführt«, und damit genug. Der Beitrag, den sie zur Lösung der Krise geleistet hatte, wog diese Verfehlung bei weitem auf. Ohne sie wäre aus Brainar, dem Netz der Kinder, womöglich eine Bestie geworden, die niemand mehr hätte zähmen können. Von dem Tag an, da Stella dies begriffen hatte, begannen die Narben auf ihrem Gewissen zu verheilen.
Die Tage in Branford dienten nicht nur Stellas körperlicher und seelischer Genesung. Sie bewahrten die ganze Familie auch vor dem Medienrummel, der einige Tage lang nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der ganze Welt tobte. Man zelebrierte würdig den Abspann zu dem großen Drama, das die Menschheit in den zurückliegenden Wochen in Atem gehalten hatte. Einzig das spurlose Verschwinden der Hauptakteurin,
Weitere Kostenlose Bücher