Das Netz der Schattenspiele
versprachen, einander zu schreiben, um die endlosen drei Monate bis zum Herbst zu überbrücken. Mit einem scheuen Kuss, der echte Freundschaft, vielleicht auch schon etwas mehr ausdrückte, nahm Benjamin Bernstein von ihr Abschied.
Am Ende waren sie wieder zu dritt: Stella, Salomon und Viviane. Gemächlich spazierten sie am Reflecting Pool entlang, einem flachen, lang gestreckten Wasserbecken, das zwischen dem Lincoln Memorial und dem Washington Monument lag. Sie hatten es nicht eilig.
Eine Zeit lang sahen sie einem kleinen Mädchen beim Füttern der schwarzbraunen Eichhörnchen zu, die es hier in rauen Mengen gab. Stellas Eltern unterhielten sich über die Zukunft. Viviane verriet, was sie schließlich dazu bewogen hatte, sich für ihre Familie zu entscheiden. Sie meinte, der jüngste Vorfall habe ihr gezeigt, dass man vor Problemen nicht davonlaufen dürfe, sondern sich ihnen stellen müsse.
Stellas umherwandernde Augen entdeckten eine fallen gelassene Erdnuss im Gras. Sie hob ihren Fund auf und schnalzte mit der Zunge, um die Eichhörnchen anzulocken. Zu ihrem Erstaunen hüpfte mit einem Mal ein weißes Tier, offenbar ein Albino, aus den in der Nähe stehenden Bäumen und kam direkt auf sie zugelaufen. Erst in zwei Meter Entfernung blieb es zögernd stehen und musterte interessiert den Leckerbissen in Stellas ausgestreckter Hand.
»Komm!«, lockte Stella das muntere Pelzknäuel.
Flauschige Ohren wurden gespitzt. Winzige Füßchen tippelten noch ein Stück näher heran. Eine helle, freundliche Erinnerung huschte durch Stellas Geist, Worte, die sie nie vergessen würde: Du wirst mich sehen, wo du mich nie erwartest.
Stella musste unwillkürlich lächeln. Als das scheue Tier die Nuss aus ihrer Hand stibitzte, flüsterte sie: »Schön, dass du mich mal wieder besuchen kommst, kleine Sesa Mina.«
Schon am Montagnachmittag flog Stella in Begleitung ihrer Eltern über Frankfurt nach Berlin zurück. Während des Fluges gingen ihr noch einmal die Erlebnisse der letzten vier Wochen durch den Kopf, sowohl die virtuellen wie auch die realen. Sie erinnerte sich an jene Nacht in New York, als sie von dem riesenhaften Nussknacker geträumt hatte. Damals hatte Salomon den Cyberwurm als ein krankes Genie bezeichnet, das in seinen Aktionen die einzige Möglichkeit sah, auf sich aufmerksam zu machen. Schon seltsam, dachte Stella, in gewisser Hinsicht hatte sich genau das als Wahrheit herausgestellt. Allerdings war der Nussknacker dann am Ende kein Traumbild für Brainar, den Cyberwurm, Draggy oder wie immer man das kollektive Gehirn des Brain Arrays auch bezeichnen wollte, sondern wohl eher für DiCampo gewesen. Um ein Haar hätte er Stellas Bewusstsein wie eine Nuss zermalmt. Kein Wunder, dass sie in Illusion den Gasthof Zum Nussknacker nur so widerstrebend betreten hatte.
Zum Glück waren da Salomon und viele neue Freunde gewesen, die für sie gekämpft hatten. Während Stella auf das Wolkenmeer hinausblickte, musste sie an Benny denken. Ob er wohl schon zu einem neuen gefährlichen Einsatz im Auftrag der UN unterwegs war? Wenn sie sich erst wieder sahen, würde sie ihm so lange zusetzen, bis er ihr alle seine Geheimnisse verriet. Stella freute sich schon auf den Herbst.
Die FBI-Beamten hatten um Zeugenaussagen gebeten, die in dem Prozess gegen Alban C. DiCampo Verwendung finden sollten. Salomon war gerne bereit, die amerikanischen Behörden in dieser Angelegenheit uneingeschränkt zu unterstützen. Am Montagmorgen, dem Tag des Heimfluges, hatte Agaf noch einmal im Hotel angerufen.
»Barney und seine Hackerbande haben den DiCampo-Code geknackt«, berichtete der sonst immer so ausgeglichene Afrikaner überschwänglich. »Eure Elektra hat wieder den entscheidenden Tipp dazu geliefert. Eigentlich ein Witz: Der Intruder-Chef hat einen ziemlich alten und nur selten verwendeten Algorithmus benutzt. Die Ermittlungsbehörden hatten von einem NSA-Angehörigen etwas wesentlich Komplizierteres erwartet, deshalb waren sie nicht in der Lage gewesen, den Code selbst zu entschlüsseln.«
»Und?«, hatte Salomon gespannt erwidert. »Gibt es irgendwelche brauchbaren Hinweise in dem Geheimen Stadtarchiv von Enesa?«
»Eine wahre Fundgrube, Mark! Die Unterlagen aus dem Historienarchiv von Geneses und DiCampos geheime Dokumente greifen wie Zahnräder ineinander. Termine, Bestechungsgelder, Intruder-Interna, Formeln und Herstellungsverfahren des Neuro-Boosters – es ist wie ein großes Puzzle, dessen Einzelteile in zwei Kartons
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