Das Netz der Schattenspiele
in den Spiegel über dem Waschbecken fiel, verzog sich ihr Gesicht zu einer plärrenden Grimasse.
Salomon und Viviane, die abwechselnd die Nacht am Bett verbracht hatten, eilten besorgt zu ihrem weinenden Kind.
»Was ist los mit dir?«, fragte Viviane. Das tränenüberströmte Gesicht ihrer Tochter machte sie ganz und gar ratlos.
»Ich habe nie in den Spiegel geschaut«, wimmerte Stella.
»Wie bitte? Aber da ist doch einer.« Viviane deutete verwirrt zur Wand über dem Waschbecken.
»Nein«, quengelte Stella. »In Illusion, meine ich. Alle haben mir immer gesagt, wie toll ich aussehe. Ich bin mit Komplimenten regelrecht überschüttet worden. Und ich habe kein einziges Mal in den Spiegel gesehen!« Stellas Tränenfluss nahm wieder zu.
Viviane umarmte ihre Tochter und klopfte ihr aufmunternd den Rücken. »Du bist doch im richtigen Leben so hübsch! Wozu brauchst du da noch Schmeicheleien aus einem Traum?«
»Ist das wahr?«, schniefte Stella. »Ich hab schon wieder einen Pickel am Kinn.«
»Ungelogen, als ich in deinem Alter war, sah ich aus wie ein Streuselkuchen.«
Stella drückte sich von ihrer Mutter weg. »Stimmt ja gar nicht!«
»Doch.«
»Und wie hast du diese ekligen Eiterbeulen wegbekommen?«
»Ein Prozent Chemie, neun Wasser und Seife sowie neunzig Prozent Geduld. Im Portmonee war dann allerdings Ebbe.«
»Dann hab ich also doch noch eine Chance, irgendwann genauso wundervoll auszusehen wie du?«
»Einspruch, Euer Ehren«, meldete sich Salomons Stimme aus dem Hintergrund. Mutter und Tochter blickten ihn verwundert an. »In meinem Harem möchte ich etwas mehr Abwechslung haben, bitte schön. Wenn meine beiden Schönheiten gleich hübsch sind, ist das doch langweilig.«
Stella riss Augen und Mund auf. »Heißt das etwa, ihr…?«
Viviane nickte. »Mark und ich haben in der vergangenen Nacht ein ziemlich langes Gespräch geführt – du hast ja geschlafen wie ein Maulwurf im Winter. Mark konnte mich überzeugen, dass unser Leben in Zukunft wirklich anders werden wird.« Sie lächelte, fast wie ein schüchternes Mädchen. »Außerdem haben mir die letzten Tage die Augen geöffnet: Ich hätte es ohne euch beide sowieso nicht mehr länger ausgehalten.«
Stella vergaß ihr kosmetisches Problem und umschlang den Hals ihrer Mutter wie eine Pythonschlange. Energisch winkte sie dann den Vater herbei, und als dieser sich in Reichweite befand, wurde er in den Würgegriff mit einbezogen. Für einen wunderschönen langen Augenblick waren sie mit ihren Freudentränen ganz allein.
Gegen neun Uhr hatte dann Barney den Schauplatz betreten. Stella lag wieder in ihrem Bett.
Von Salomon, Viviane und Barney erhielt sie nun zum ersten Mal einen umfassenden Bericht, der die letzten dunklen Punkte in ihrem Bild der vergangenen Tage erhellte.
Sie erfuhr die ganze unglaubliche Geschichte des Dunklen Lauschers Barney Brown. Erst im Alter von fünfzehn Jahren hatte er mit seinen Eltern Berlin verlassen. Seine Rückkehr in eine Heimat, die er zuvor nur aus den Ferien gekannt hatte, erinnerte Stella fatal an ihre eigene Lebensgeschichte. Barney erzählte von seinem Studium in Berkeley, von den ersten Begegnungen mit Mark Kalder und von seinem späteren Engagement bei der NSA. Sein Vater, inzwischen ein hohes Tier im Pentagon, habe ihm diesen Job verschafft, berichtete Barney wie von einem missglückten Campingausflug. Die tragischen Vorfälle in der ersten Erprobungsphase des Intruders hätten ihm dann ein für alle Mal die Augen geöffnet. Als Ethical Hacker und freier Mitarbeiter beim Computer Crime Squad des FBI hatte er sein Auskommen und konnte sich zudem wieder vor dem Spiegel in die Augen schauen, was ihm während der Zeit bei Alban C. DiCampo schwer gefallen war.
Der Hacker aus Leidenschaft hatte seitdem so ziemlich alles geknackt, was in der Welt der Computer überhaupt knackbar war. »Und das ist erheblich mehr, als die meisten glauben«, versicherte Barney grinsend. In seinem elektronischen »Privatzoo« hielt er sich Viren wie andere Leute Fische im Aquarium. Sein Hauptinteresse galt aber weiterhin dem geheimen Intruder-Projekt.
Aufgrund seiner sporadischen Einsätze für das FBI, gelegentlich sogar für die CIA, hatte Barney auch nach dem Ausscheiden aus der NSA den Werdegang DiCampos im Auge behalten. Er wollte die Machenschaften des Italieners an die Öffentlichkeit zerren, sobald er dazu die nötigen Beweise gesammelt hatte. Als Marks Kagee- Programm ins Internet entkam und bald darauf in den Brain
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