Das neue Philosophenportal
Heidegger-Schüler, doch unter diesen Schülern war er eher ein Außenseiter. Er erlebte zwar unmittelbar
mit, wie Heidegger seine »Hermeneutik des Daseins« in seinem Hauptwerk
Sein und Zeit
entwickelte, doch Heidegger traute dem eher konservativ und bildungsbürgerlich auftretenden jungen Mann zunächst noch nicht
allzu viel zu. Deshalb promovierte Gadamer 1925 nicht bei Heidegger, sondern bei Paul Natorp und entschloss sich sogar, noch
ein Studium der klassischen Philologie anzuschließen. Heideggers etwas verhaltene Beurteilung seiner Person ließ ihn daran
zweifeln, ob er die Philosophie zum Beruf machen sollte.
Als Heidegger jedoch 1928 wieder nach Freiburg ging, hatte sich seine Haltung gegenüber Gadamer positiv verändert. Nun machte
er ihm das Angebot, seine wissenschaftliche Laufbahn bei ihm fortzusetzen. Mit einer Arbeit über Platon habilitierte sich
Gadamer 1929 bei dem inzwischen berühmten Heidegger.
Sowohl Dilthey als auch Heidegger blieben für Gadamer die entscheidenden Lehrmeister. Doch es dauerte lange, bis er mit seiner
eigenen Neubegründung der Hermeneutik hervortrat. Zunächst war er mit seiner akademischen Karriere beschäftigt, deren Beginn
in die Frühzeit der Naziherrschaft fiel. Gadamer war nie ein aktiver Nazi wie sein Lehrer Heidegger, aber er vermied auch
jeden Konflikt mit der Diktatur. Als am 10. November 1933 eine Reihe deutscher Professoren ein für das Ausland bestimmtes Bekenntnis zu Adolf Hitler veröffentlichte,
fand sich auch sein Name unter den Unterzeichnern. 1937 wurde er außerplanmäßiger Professor in Marburg, und 1939 erhielt er
seinen ersten ordentlichen Lehrstuhl in Leipzig, den er bis 1947 innehatte. Danach lehrte er in Frankfurt/Main und schließlich
ab 1949 bis zu seiner Emeritierung in Heidelberg.
Gadamers eigenes Denken entwickelte sich für die Öffentlichkeitweitgehend unbemerkt, da er außer wenigen Aufsätzen kaum etwas publizierte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er immer
wieder von Freunden und Schülern bedrängt, seine eigenen Thesen endlich in Buchform zu veröffentlichen. Gadamer bevorzugte
es, seine Gedanken im Gespräch zu entwickeln, die schriftliche Äußerungsform bereitete ihm große Mühe. Dass philosophische
Erkenntnis vor allem im dialogischen Austausch entsteht, gehörte zu seinen philosophischen Grundüberzeugungen.
Angeregt durch einen Aufsatz des Theologen Rudolf Bultmann von 1950, »Das Problem der Hermeneutik«, beginnt Gadamer seit etwa
1951 an einer eigenen »Theorie der Hermeneutik« zu arbeiten. Es geht ihm um ein »Verstehen«, das – in Anknüpfung an Dilthey
und Heidegger – die geschichtliche Vorgeprägtheit des Menschen berücksichtigt und zu einem Begriff der Wahrheit führt, der
mehr meint als die bloße Übereinstimmung eines behaupteten Sachverhalts mit einer Tatsache. Gadamer hatte einen Wahrheitsbegriff
im Sinn, der metaphysische und teilweise theologische Anklänge hatte und auf eine Tiefendimension der Wirklichkeit zielte.
Damit bewegte sich die Hermeneutik in Richtung auf eine Ontologie, eine Lehre von den grundlegenden Prinzipien des Seins.
Sie erhielt einen »universalen« Charakter: Ihre Anwendung weitet sich von der Texterfahrung zur Welterfahrung aus.
Die Brücke zu dieser Welterfahrung war nicht mehr die Natur, sondern die kulturelle Tradition. Gadamer stützte sich, wie er
in einem Brief an Bultmann schrieb, auf »die Erfahrung der philosophischen Klassiker, der Kunst und der humanistischen Tradition«,
also auf die geisteswissenschaftliche Erfahrungswelt. Ästhetisches und geisteswissenschaftliches Verstehen wird bei Gadamer
zum Vorbild für Verstehen überhaupt.
In mehreren Vorträgen, so in »Wahrheit in den Geisteswissenschaften« von 1953 und »Was ist Wahrheit?« von 1955, bereitete
Gadamer seine Theorie vor und entwickelte dort die für ihn grundlegende Auffassung, dass Verstehen von Wahrheit ein Prozess
ist, der mit dem Verständigungsprozess in einem Gespräch verglichen werden kann.
Die Arbeit an seinem Hauptwerk kostete Gadamer fast ein Jahrzehnt. Erst im Wintersemester 1958 / 59, in dem er von der Universität beurlaubt worden war, konnte er das Manuskript vollenden. Der ursprünglich vorgesehene Titel
»Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik« wurde allerdings vom Verleger nur als Untertitel akzeptiert, da der Begriff
»Hermeneutik« zu wenig verkaufsträchtig erschien. »Wahrheit und Methode« dagegen hatte als
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