Das neue Philosophenportal
keineswegs beliebig. Ein Text lässt sich nicht willkürlich
aktualisieren und auf meine Situation beziehen. Obwohl Gadamer immer wieder betont, dass Texte auf eine stets neue Art und
Weise angeeignet und verstanden werden können, neigt er doch dazu, der Tradition ein großes Eigengewicht zu geben. Deshalb
bleiben für ihn auch die Möglichkeiten eines kritischen Umgangs mit der Tradition begrenzt. Er bezeichnet den Verstehensprozess
als ein »Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen« und will damit deutlich machen, dass der Verstehende sich um das Sinnpotenzial
der Überlieferung bemühen muss. Gadamer fordert, einfacher gesagt, vor der Tradition Ehrfurcht und Respekt. In ihr liegt schließlich
das verborgen, was wir als »Wahrheit« immer wieder neu erfahren wollen.
Im Verlauf des Werkes versucht Gadamer den Leser davon zu überzeugen, dass das Verstehen von Texten Vorbild für das Verstehen
von Welt ist. Verstehen als Horizontverschmelzung beschränkt sich für Gadamer deshalb nicht nur auf das, was wir normalerweise
als »Text« bezeichnen, sondern es ist für ihn »der ursprüngliche Seinscharakter des Lebens selber«. Gadamers Ziel, Hermeneutik
als eine universale philosophische Disziplin zu begründen, ist mit dem Anspruch verbunden, »Verstehen« als Grundlage der Welterfahrung
nachzuweisen. Dies kann nur gelingen, wenn die Welt jene Grundeigenschaften aufweist, die auch ein Text hat.
Hier stellt Gadamer eine These auf, die in eigentümlicher Nähe zum »linguistic turn«, zur »sprachphilosophischen Wende«, der
analytischen Philosophie steht, zu der seine Theorie ansonsten einen großen Abstand hat. Auch für ihn sind Welt und Sprache
aufs Engste miteinander verbunden. Unsere Welt ist sprachlich verfasst, und wir erfahren Welt nur über Sprache. »Es ist die
Mitte der Sprache«, so Gadamer, »von der aus sich unsere gesamte Welterfahrung und im Besonderen die hermeneutische Erfahrung
entfaltet.« Da die Weltnur über Sprache erfahrbar ist, muss sie wie ein Text behandelt werden und ist dem gleichen Verstehensprozess zugänglich wie
die Überlieferung. Und da die Horizontverschmelzung für Gadamer im Mittelpunkt des Verstehens von Texten steht und ihm als
die eigentliche Leistung der Sprache gilt, wird sie auch zum Mittelpunkt der Welterfahrung.
Dass jede Sprache eine bestimmte Weltsicht vermittelt – diese These Gadamers hatte auch schon Ludwig Wittgenstein, ein Gründungsvater
der sprachanalytischen Tradition, 1951 in seinen
Philosophischen Untersuchungen
vertreten. Wittgenstein glaubte, dass jedes sprachliche Bezugssystem, jedes »Sprachspiel«, eine »Lebensform« definiert. Gadamer
spricht davon, dass jede Sprache die Welt auf eine bestimmte Art »abschattet«.
Im Gegensatz zu vielen Sprachanalytikern ist Sprache für Gadamer aber kein künstlich festgelegtes Zeichensystem. Es ist das
Medium, in dem der Mensch mit seiner begrenzten Erkenntnisfähigkeit in Kontakt mit der Wahrheit treten kann. Diese »Wahrheit«
wird von Gadamer an keiner Stelle eindeutig definiert. Sie hat den Charakter eines »Ereignisses«, an dem der Mensch teilhat
und in das er einbezogen ist. Mit dem »Überlieferungsgeschehen« korrespondiert bei Gadamer das »Wahrheitsgeschehen«. In Ergänzung
zum Bild des Fragenden, der sich an die Überlieferung wendet, benutzt Gadamer hier häufig das Bild des Hörens, um die Stellung
zu verdeutlichen, die der Mensch gegenüber der Sprache und dem »Wahrheitsgeschehen« einnehmen muss. Nicht wir benutzen die
Sprache wie ein einfaches Verständigungswerkzeug, sondern es ist die Sprache, die uns »anredet« und auf die wir hinhören müssen.
Es ist die Kunst, die Gadamer schon am Beginn des Buches als Darstellung von Wahrheit eingeführt hatte, die das Vorbild für
die Wahrheitserfahrung mittels der Sprache abgibt.
Nicht zufällig werden hier aber auch Anklänge an die theologischen Ursprünge der Hermeneutik deutlich. Das »Wahrheitsgeschehen«,
von dem Gadamer spricht, hat seine Wurzel im »Heilsgeschehen« und in der Gotteserfahrung, wie sie dem Hörer der religiösen
Offenbarung zugänglich wird. In Gadamers
Wahrheit und Methode
fühlt der Leser sich wie in eine zum Konzertsaal umgebaute Kirche versetzt, von der man zwar weiß, dass sie nicht mehr religiösen
Zwecken dient, deren räumliche Ausgestaltung aber überall an ihre ursprünglich religiöse Bestimmung erinnert. Der ehemals
unergründliche Gott hat sich nun im
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