Das neue Philosophenportal
Methode
hat Gadamer den Anspruch der Hermeneutik erweitert und sie zu einer Grundlagendisziplin der Philosophie gemacht.
Wahrheit und Methode
enthält den Entwurf einer neuen Art von Erkenntnistheorie, in der es, wie er schreibt, um eine »Erfahrung von Wahrheit« geht,
»die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik übersteigt«.
Diese Wahrheitserfahrung gründet für Gadamer in der Sprache, denn jedes Verstehen von Wirklichkeit ist für ihn ein durch Sprache
vermitteltes Verstehen. Im Verstehen offenbart sich für den Menschen, wie Gadamer sagt, »das Ganze seiner Welterfahrung«,
in der die Kommunikation mit der Überlieferung und der Austausch mit den Urteilen und Erfahrungen anderer Menschen im Vordergrund
stehen. Er setzt der naturwissenschaftlichen Welterklärung ein Modell entgegen, das die Welt nach dem Vorbild eines literarischen
Kunstwerks wie einen überlieferten Text begreift. So wird
Wahrheit und Methode
eine neue Anleitung zum Lesen der Welt, aber auch eine Aufklärung über die Art, wie verschiedene Lesarten der Welt sich miteinander
verständigen können.
Mit seiner Distanz zu den Naturwissenschaften und seiner Neigung zu Kunst und Philosophie brachte sich der junge Gadamer früh
in Konflikt mit seinem Vater, einem Professor der Chemie, der die Geistes- und Kulturwissenschaften immer mit großem Misstrauen
betrachtete und sie abschätzig als »Schwätzwissenschaften« bezeichnete. Dennoch profitierte der angehende Philosoph von den
Bildungsvorteilen, die das Aufwachsen in einem akademischen, bürgerlichen Haushalt mit sich brachte. 1902, zwei Jahre nach
Gadamers Geburt in Marburg, zog die Familie ins schlesische Breslau um, wohin der Vater seinen ersten Ruf als Ordinarius erhalten
hatte. Dort erlebte Gadamer seine Schulzeit und sein erstes Studienjahr. Als sein Vater 1919 die Möglichkeit erhielt, nach
Marburg zurückzukehren, folgte der Sohn seinen Eltern.
Sein Studium war rein geisteswissenschaftlich orientiert, aber dennoch breit angelegt. Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaften
nahmen einen mindestens genauso großen Raum ein wie diePhilosophie. Der Umgang mit Kunst und Literatur prägte sein Bildungs- und Selbstverständnis: Unter den bedeutenden Philosophen
des 20. Jahrhunderts ist Gadamer der große Schöngeist, der bis ins hohe Alter Gedichte aus dem Stegreif zitieren konnte und immer
davon überzeugt blieb, dass in den Werken der Kunst die großen Wahrheiten über die Welt verborgen sind.
Das akademische Milieu blieb seine soziale Heimat. Gadamer war zeitlebens ein Mann der Universität, ein klassischer mitteleuropäischer
Gelehrter alten Typs. Die Welt der deutschen Universitätsstädte, die sich von der Politik fernhielt, die eigene Hierarchien
pflegte und Bildung und Kultur als einen Wert an sich ansah, wurde zu seinem Lebensmittelpunkt.
Gadamer hatte das Glück, dass seine Ausbildung an einem für die Philosophie entscheidenden Ort und zu einem für die Philosophie
entscheidenden Zeitpunkt stattfand. Marburg war Anfang des 20. Jahrhunderts neben Cambridge, Paris und Wien eine der wichtigsten Ideenwerkstätten der Philosophie der Moderne, ein Ort, der
Studenten von überall her anzog. So kamen vor dem Ersten Weltkrieg Boris Pasternak und Ortega y Gasset zum Philosophiestudium
nach Marburg ebenso wie einige Jahre nach dem Krieg die junge Hannah Arendt.
Die Marburger Schule des Neukantianismus mit ihren beiden Hauptvertretern Hermann Cohen und Paul Natorp versuchte, die Philosophie
wieder an die sich stürmisch entwickelnden empirischen Wissenschaften anzuschließen. Auch Gadamer lernte die Philosophie zunächst
aus neukantianischer Sicht kennen, zunächst über Richard Hönigswald, seinen ersten philosophischen Lehrer in Breslau, und
später über den damals weit über sechzigjährigen Paul Natorp, bei dem er promovierte.
In Anlehnung an Kant versuchten die Neukantianer jene im menschlichen Bewusstsein angelegten Grundbegriffe herauszuarbeiten,
mit deren Hilfe wir die Welt erst als eine Einheit erfahren können. Diese, wie die Kantianer sagen, »transzendentalphilosophische«
Frage nach den Erkenntnisbedingungen, die unsere Welterfahrungen erst ermöglichen, blieb auch für Gadamer bestimmend. Doch
erentfernte sich immer mehr von der Vorstellung, jene Bedingungen könnten im reinen, von den Gegenständen unabhängigen Bewusstsein
gefunden werden. Gadamer machte sich auf die Suche nach einer Philosophie, die welt-
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