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und sachhaltiger war, die also auf die
Konkretheit und Fülle der Welterfahrung einging.
Entscheidend befördert wurde diese Suche durch zwei berühmte, ebenfalls in Marburg lehrende Kritiker des Neukantianismus.
Der erste war Nicolai Hartmann, der selbst noch bei Paul Natorp habilitiert hatte und der Gadamer zu einem seiner Lieblingsschüler
machte. Für Hartmann war die Welt kein Erkenntniskonstrukt des Menschen. Als erkenntnistheoretischer Realist hielt er daran
fest, dass es eine vom Erkenntnissubjekt unabhängige Außenwelt gibt.
Zur Enttäuschung Hartmanns wandte sich aber der junge Gadamer, wie zahlreiche andere Marburger Studenten, bald dem neuen,
jungen Star der deutschen Philosophieszene zu, Martin Heidegger. Heidegger, gerade einmal elf Jahre älter als Gadamer, war
ein Schüler Edmund Husserls, des Begründers der Phänomenologie. Dessen Devise »Zu den Sachen selbst!« interpretierte Heidegger
auf eine sehr eigenwillige Weise, indem er das Programm einer »Hermeneutik des Daseins« entwarf, in deren Mittelpunkt der
Mensch und sein Versuch stehen, seinem Leben durch einen Existenzentwurf einen Sinn zu geben.
Mit Heideggers Denken kam Gadamer 1922 in Kontakt, als Heidegger von Freiburg aus ein Manuskript mit Aristoteles-Interpretationen
nach Marburg schickte, um seine Bewerbung auf die Stelle des außerplanmäßigen Professors zu unterstreichen. Diesem Manuskript
stellte er eine Einleitung mit dem Titel »Anzeige der hermeneutischen Situation« voran. In diesem neuen Verständnis von Hermeneutik
geht es nicht mehr, wie in der klassischen Hermeneutik, um das Verstehen von Texten, sondern um das Selbstverständnis des
Menschen. Die Stellung, in der der Mensch sich gegenüber der Welt befindet, soll »durchsichtig« gemacht werden. Die »Situation
der Auslegung«, von der Heidegger hier spricht, richtet sich nun auf eine »Lebensauslegung«. »Verstehen« wird gleichbedeutend
mit einer Lebensführung, die auf einem bewussten Existenzentwurf beruht.Heideggers Hermeneutik ist Grundlage seiner Existenzphilosophie.
Damit hatte der Begriff »Hermeneutik« eine grundlegende Bedeutungsveränderung erfahren. Ursprünglich waren es vor allem Juristen
und Theologen, die Hermeneutik als eine Technik betrieben, mit deren Hilfe man Gebote oder Gesetzestexte auf konkrete Situationen
anwenden konnte. Der Theologe Friedrich Schleiermacher machte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Hermeneutik dann fachübergreifend zu einer allgemeinen Lehre der Interpretation klassischer Texte.
Es waren die Historisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in der Hermeneutik ein Werkzeug erkannten, um die Besonderheit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften
herauszustellen. Ihrer Auffassung nach hatten es die Geisteswissenschaften nicht mit allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu tun,
sondern mit Geschehnissen, die in ihrer geschichtlichen Einmaligkeit »nachempfunden« werden mussten. So setzte einer der bedeutendsten
Historisten, Wilhelm Dilthey, in seiner berühmten
Einleitung in die Geisteswissenschaften
von 1883 dem naturwissenschaftlichen »Erklären« die geisteswissenschaftliche Methode des »Verstehens« entgegen. Dieses »Verstehen«
hat nach Dilthey eine eigentümliche Struktur, für die sich der Begriff »hermeneutischer Zirkel« eingebürgert hat: Aus dem
Vorverständnis von Einzelerkenntnissen muss man im Vorgriff auf das Ganze der zu verstehenden Sache schließen. Andererseits
lassen sich diese Einzelerkenntnisse erst richtig einordnen, wenn man bereits ein Verständnis des Ganzen besitzt.
Heidegger hatte Diltheys Vorstellung von »Verstehen« auf den Prozess übertragen, in dem der einzelne Mensch in der Auseinandersetzung
mit der Welt steht. Er hatte dabei aber auch etwas Wichtiges von Dilthey übernommen: die Erkenntnis nämlich, dass Verstehen
immer vom Bewusstsein einer geschichtlich konkreten Situation her erfolgen muss. Für den jungen Gadamer war es diese Erkenntnis,
die ihn endgültig aus den Beschränkungen der neukantianischen Bewusstseinsphilosophie hinausführte.
Als der Student Gadamer von Paul Natorp eine Kopie des Heidegger’schen Manuskripts erhält, ist dies für ihn, wie er später
schreibt, »wie ein Getroffenwerden von einem elektrischen Schlage«. Er macht sich sofort nach Freiburg auf, um Heidegger zu
hören. Als dieser 1923 nach Marburg berufen wird, kehrt Gadamer mit ihm zurück.
Gadamer blieb zwar ein
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