Das neue Philosophenportal
Cicero und Seneca an breite Bildungsschichten vermittelt worden, hatten dabei einen ausgesprochen
lebenspraktischen Zug angenommen und ihre Gegensätze abgeschliffen. Allen gemeinsam war z. B. die Forderung nach einem vernunftgemäßen Leben, das die Leidenschaften unter Kontrolle hält und zwischen notwendigen und
nichtnotwendigen Bedürfnissen zu unterscheiden vermag. Platoniker, Peripatetiker und Stoiker teilten zudem die Überzeugung,
dass dem Kosmos eine vernunftgemäße Ordnung zugrunde liegt, in die sich der Mensch durch ein entsprechendes Leben einzufügen
habe.
Das ausgesprochene Interesse des Boethius für Naturforschung verrät den Einfluss der Tradition des Aristoteles. Doch am meisten
zugehörig fühlte er sich der platonischen Schule, die zu seiner Zeit vom sogenannten »Neuplatonismus« geprägt wurde. Diese
auf den Philosophen Plotin (204 – 269) zurückgehende Richtung hatte ausgesprochen mystische und religiöse Züge. Wie Platon selbst ging Plotin von einer niederen
materiellen und einer höherstehenden geistigen Welt aus, die für ihn in dem »Einen« gipfelte, in dem sich alle Wirklichkeit
konzentriert. Je geistiger die Dinge sind, umso mehr sind sie vom Einen durchdrungen und umso wirklicher sind sie; je materieller
sie sind, umso unwirklicher sind sie. Die Erkenntnis des Einen folgt einem Stufenweg, der bei den sinnlich wahrnehmbaren Dingen
beginnt und bis zu einer visionären geistigen Schau fortschreitet, die nicht mehr mithilfe der Sprache beschrieben werden
kann.
Das Eine hat jedoch nicht nur eine metaphysische und erkenntnistheoretische Bedeutung. Es ist gleichzeitig geistiges Prinzip
der Welt und Inbegriff des moralisch Guten. Daraus entstand das für den Neuplatonismus charakteristische Verständnis des Bösen:
Das Böse wird zu einem Mangel an Wirklichkeit, zu einer Entfernung von dem Einen. Es hat keinen eigenen Wirklichkeitsgehalt.
Es fiel Boethius nicht schwer, sein Christentum mit neuplatonischen Auffassungen zu verbinden. Auch der christliche Gott wurde
als Inbegriff des Guten und höchste Form der Wirklichkeit verstanden. Die Abwertung der materiellen gegenüber der geistigen
Welt war inzwischen schon, über den frühchristlichen Augustinus, vom Christentum übernommen worden.
Für Boethius war die Philosophie zunächst Gegenstand des Studiums und der Forschung. In einer zunehmend von germanischen Eindringlingen
dominierten Welt nahm er sich vor, möglichst viel von der antiken philosophischen Tradition an die Nachwelt zu vermitteln.
So wollte er das gesamte Werk des Platon und des Aristoteles ins Lateinische übersetzen. Wie viel davon er verwirklicht hat,
ist uns nicht bekannt. Immerhin wissen wir, dass er die meisten logischen Schriften des Aristoteles und die zugehörigen Kommentare
des Plotin-Schülers Porphyrios übersetzt hat. Auch Kommentare zu Cicero und einige christliche Traktate sind uns erhalten.
Beeindruckend ist diese philosophische Vermittlungs- und Bildungsarbeit vor allem deshalb, weil Boethius sie neben seinen
politischen Ämtern betrieb. Wie die meisten Römer sah er seine Bestimmung nicht in der Lebensform des Gelehrten, sondern in
der des für das Gemeinwesen engagierten Bürgers. Durch gute Beziehungen zum Ostgotenherrscher Theoderich und durch die Einheirat
in eine einflussreiche römische Familie schuf er dafür die gesellschaftliche Grundlage. Bereits im Alter von 30 Jahren wurde er Konsul. Als zwölf Jahre später auch seine beiden Söhne die Konsulwürde erhielten, war Boethius auf dem Zenit
seiner gesellschaftlichen Karriere angelangt. Auch in der Gunst des Ostgotenherrschers stand er nun ganz oben und stieg bis
zum ersten Minister des Reichs auf.
Doch in einem sehr instabilen, von Herrschergunst und zahlreichenIntrigen bestimmten politischen Klima konnte sich Boethius nicht lange behaupten. Theoderich sah mit Misstrauen auf die römische
Aristokratie. Er brauchte sie als Mitstreiter in seiner gegen Ostrom gerichteten Politik, aber er fürchtete, dass die oströmischen
und weströmischen Eliten sich hinter seinem Rücken gegen ihn verbünden würden. Dazu kamen religiöse Differenzen, die sich
an der damals heftig diskutierten Frage entzündeten, ob Christus nur als Mensch, nur als Gott oder als beides zugleich zu
verstehen sei. Die Ostgoten bekannten sich zum sogenannten »Arianismus«, in dem Christus lediglich als Mensch und nicht als
Gott angesehen wurde. Die
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