Das neue Philosophenportal
weströmischen Christen wiederum glaubten an die Doppelnatur Gott-Mensch. Im oströmischen Reich wiederum
herrschten die »Monophysiten« vor, die Christus nur als Gott ansahen. Diese Fragen, die heute kaum noch die Menschen bewegen,
waren damals nicht nur von religiöser, sondern auch von hoher politischer Brisanz. Mit dem Deutungsanspruch über das Christentum
war der Herrschaftsanspruch in der Tradition des alten Römischen Reiches verbunden.
Offenbar begann Theoderich den Verdacht zu hegen, Boethius paktiere mit Ostrom. Als dann Mitglieder des römischen Adels gegen
Boethius intrigierten und ihn durch gefälschte Briefe belasteten, sah Theoderich die Gelegenheit gekommen, ihn fallen zu lassen.
Der offizielle Vorwurf lautete nicht nur auf Hochverrat, sondern auch auf Spiritismus, ein besonders schwer wiegender Vorwurf,
weil damit ein Vergehen gegen die Staatsreligion des Christentums gemeint war.
Nach allem, was wir wissen, waren sämtliche Beschuldigungen gegen Boethius falsch. Es war auch schwerlich ein Trost, dass
er sich mit dieser Anklage in guter philosophischer Gesellschaft befand: Auch Sokrates war mehrere hundert Jahre zuvor beschuldigt
worden, den falschen Göttern gedient zu haben. Wie dieser wurde Boethius Opfer eines politischen Prozesses: Im Jahr 524 verurteilte
ihn der römische Senat zum Tode. Seine Versuche, sich zu rechtfertigen, waren erfolglos. Man verbrachte ihn zunächst in Haft,
vermutlich nach Pavia, wo er in einer Art Hausarrest lebte.
In dem Jahr, das ihm nun noch bis zu seiner Hinrichtung blieb,wandte Boethius sich wiederum der Philosophie zu. Zwar hatte er sich sein Leben lang mit ihr beschäftigt, doch nun war sein
Blick auf sie ein anderer geworden: Sie war kein Lehrgegenstand mehr, sondern ein Lebensgegenstand geworden. Für den Christen
Boethius wurde nicht der Glaube, sondern die Tradition des antiken Denkens zum Mittel, mit dem Schicksal, das ihn getroffen
hatte, fertig zu werden und sich mit der Gesamtheit seines Lebens zu versöhnen.
Trost der Philosophie
ist das Ergebnis dieser existenziellen Begegnung des Boethius mit der Philosophie. Es ist ein Buch, das sich nicht nur durch
seine Inhalte, sondern auch durch seine Form an die Traditionen der antiken Philosophie anlehnt. Über weite Passagen ist es
als Dialog abgefasst, eine literarische Form, die viele Jahrhunderte vorher in den Schriften Platons zur Meisterschaft entwickelt
worden war. Aber es enthält auch kommentierend und erläuternd eingestreute Verse und nimmt dadurch die Tradition des Lehrgedichts
auf, die in der römischen Literatur in dem Epikureer Lukrez ihren bekanntesten Vertreter hatte.
Der im Buch geschilderte Dialog findet im Rahmen einer Traumvision statt. Sein Schicksal beklagend, sieht sich der auf seinem
Lager ruhende Autor von den Musen, den Göttinnen der schönen Künste, umstanden. Sie werden allerdings von einer weiblichen
Gestalt vertrieben, die, so Boethius, obwohl bejahrt, »von frischer Farbe und unerschöpfter Jugendkraft« ist, sodass »sie
in keiner Weise unserem Zeitalter anzugehören« scheint. Es ist die Philosophie selbst, die nun als Person auftritt und im
Verlauf des Buches dem Autor als Lehrmeisterin und Gesprächspartnerin gegenübertritt.
Es ist also, so wird deutlich, nicht die Dichtung, sondern die Philosophie, die uns in Zeiten höchster Not helfen kann. Mit
dem literarischen Kunstgriff, die Philosophie als Person auftreten zu lassen, macht Boethius das philosophische Gespräch,
das er mit sich selbst führt, für den Leser erleb- und sichtbarer. Dem schicksalsgeschlagenen, orientierungslosen Menschen
tritt mit der Philosophie die Seite der Vernunft gegenüber, die die Mittel besitzt, den Geist des Menschen wieder aufzurichten.
Schon Sokrates und Platon hatten die Philosophie mit einem Arztverglichen. So wie dieser die Gesundheit des Körpers, kann sie die Gesundheit der Seele wiederherstellen. Im Buch geht sie
dabei, wie auch der Arzt, in Etappen vor. Sie wendet sich zunächst den Symptomen zu und versucht, durch milde Arzneien den
unmittelbaren Schmerz zu stillen. Boethius soll zunächst lernen, sein eigenes Schicksal in einem neuen Licht zu betrachten.
Er muss seine Haltung gegenüber der Welt und seine Bewertung von Ereignissen und Dingen verändern. Dass nicht die Geschehnisse
das menschliche Leiden verursachen, sondern die Art, wie der Mensch sich zu ihnen stellt, war eine bekannte Doktrin der Stoiker
und anderer
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