Das neue Philosophenportal
Grunde alle eins sind. Der physikalische
Blick zeigt ihm, dass der andere wie er selbst Teil derselben Natur ist. Was aber zusammengehört und Teil desselben Ganzen
ist, kann sich nicht schädigen. Die Vorstellung des Schädigens kommt erst durch mein Urteil, meine falsche Annahme über diesen
Menschen ins Spiel. Wenn ich das Urteil »Ich bin geschädigt« aus meinem Vokabular tilge,
bin
ich auch nicht geschädigt. Es ist Aufgabe der Logik, aus meinen falschen Annahmen wahre Überzeugungen zu machen, indem ich
den Blickwinkel für meine Wertungen verändere. Wem ich an einem bestimmten Tag begegne, steht nicht in meiner Macht, wohl
aber die Art, wie ich diesen Menschen betrachte und ihm entgegentrete.
Die ethische Folgerung lautet nun, dass ich mich dem anderen zuwenden muss, denn »einander entgegenhandeln ... ist naturwidrig«. Erst jetzt, in der richtigen Betrachtung und mit der richtigen moralischen Einstellung, habe ich meine
eigene Vernunft mit der Weltvernunft vernetzt.
Ein weiteres, häufig von Marc Aurel ins Spiel gebrachtes Beispielist unser Verhältnis zum Tod. Die Stoiker kannten weder ein Jenseits noch die Auferstehung und Unsterblichkeit des Individuums.
Im Tod trennen sich Körper und Seele – der Körper löst sich schnell auf, die Seele lebt noch etwas länger fort und verblasst
schließlich auch. Der Tod bietet für Marc Aurel keinen Anlass zur Dramatisierung. Er ist nicht, wie im Christentum, Scheidepunkt
für den Weg in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer. Er bedeutet schlicht, dass der Mensch sich in die Elemente auflöst,
aus denen er ursprünglich entstanden ist – er kehrt in den Schoß der Natur zurück. Was ich im Leben bin – Teil eines ewigen,
gesetzmäßigen Geschehens –, das bleibe ich auch nach dem Tod.
Marc Aurel plädiert für Gelassenheit gegenüber dem Tod und gleichzeitig für Aufmerksamkeit gegenüber dem Leben. Jedem ist
innerhalb des ewigen Zeitverlaufs eine begrenzte Zeitspanne zugeteilt, die er nicht kennt, über die er aber verfügen muss.
Statt sich der Vergangenheit oder der Zukunft zuzuwenden, sollte der Mensch die für ihn reale Zeit, die Gegenwart nämlich,
nutzen. Aus der kosmischen Perspektive ist unser Leben ohnehin nur ein winzig kleines Teilchen des Weltganzen. Was ist Schlimmes
daran, so fragt Marc Aurel am Ende des Buches, wenn uns die Natur, die uns hergeführt hat, wieder wegschickt? Im vernunftbestimmten
Kosmos gibt es keine existenziellen Dramen. »Geh also heiter weg«, so lautet der letzte Satz, »denn auch der, der dich entlässt,
ist heiter.«
Marc Aurel selbst hat sein Manuskript nie veröffentlicht. Es wurde dennoch für die Nachwelt aufbewahrt, aber erst 1559 in
Zürich zum ersten Mal gedruckt. Für die Philosophiegeschichte erlangte es insofern große Bedeutung, als nun eine der wenigen
vollständig überlieferten Schriften der stoischen Schule vorlag. Die hier formulierten Vorstellungen einer kosmischen Weltvernunft
finden sich in der Neuzeit u. a. im Pantheismus Spinozas oder in der Metaphysik Hegels wieder.
Dennoch haben sich die
Selbstbetrachtungen
weniger im akademischen Lehrbetrieb als vielmehr bei denen durchgesetzt, die die Philosophie in engem Bezug zur Lebenskunst
sehen. Als klassischesphilosophisches Brevier sind sie, über die Jahrhunderte hinweg, zum Lebensbegleiter von Menschen geworden, die ihr Leben mit
Hilfe der Philosophie ausrichten wollten, ohne sich auf scholastische Spitzfindigkeiten einlassen zu müssen. Nicht zufällig
gehörten dazu häufig auch Staatsmänner und Politiker, die sich mit der Rolle eines Philosophen auf dem Thron teilweise oder
ganz identifizierten. Friedrich II. von Preußen war ebenso ein eifriger Leser der
Selbstbetrachtungen
wie der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Denn entgegen allen Skeptikern, die die Philosophie ins stille Kämmerlein
verbannen wollen, demonstrieren die
Selbstbetrachtungen
, dass ein Leben auf der öffentlichen Bühne sich nicht nur mit philosophischen Überlegungen befassen, sondern sich auch von
ihnen leiten lassen kann.
Ausgabe:
Marc Aurel: Selbstbetrachtungen. Übertragen und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Stuttgart: Kröner 1973.
Schwanengesang der antiken Weisheit
Boethius: Trost der Philosophie (ca. 524)
Beeinflusst die Beschäftigung mit Philosophie unser Leben mehr als, sagen wir, unser Interesse für Computertechnik oder vegetarisches
Kochen? Wenn wir uns den
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