Das neue Philosophenportal
Selbsterkenntnis und einer Neuausrichtung der eigenen
Werte.
Als ein vernunftbegabtes Wesen kann Glück für den Menschen nur in einem Gut liegen, in dem die Vernunft ihre Anlagen verwirklicht
und Erfüllung findet. Es muss ein geistiges Gut sein, der geistigen Natur der Vernunft entsprechend; es muss ein dauerhaftes
Glück sein, das nicht den Wechselfällen des Lebens unterworfen ist; und es muss vollkommen sein in dem Sinne, dass es nicht
Begehrlichkeiten nach noch mehr oder nach etwas anderem weckt. Dies alles ist bei unseren üblichen Glücksgütern wie Macht,
Reichtum und Ruhm nicht der Fall. Sie wecken vielmehr unsere Gier und führen letztlich zum Katzenjammer. Nicht sie sind es,
die uns einen Zustand des dauerhaften und wunschlosen Glücks verschaffen. Es ist eher umgekehrt: Gerade das, was wir normalerweise
Unglück nennen, hilft uns, zur Selbstbesinnung und zur Selbsterkenntnis zu kommen, und ebnet uns dadurch den Weg zum wahren
und dauerhaften Glück.
Diese wahre Glückseligkeit, die keine Stimulation braucht und auch keine Nachwehen hat, die sich selbst genügt, vollkommen,
einfach und ungeteilt ist, liegt in nichts anderem als dem, wonach alles in Wahrheit strebt. Boethius nennt es »Gott«. Es
ist, in neuplatonischer Tradition, das »Gute« und das »Eine«, das höchste Gut, die höchste Glückseligkeit und gleichzeitig
die höchste Form der Wirklichkeit.
Boethius ruft diesen Gott an als »Schöpfer des Himmels und der Erden« und weckt damit Vorstellungen, die wir mit dem christlichen
Gott verknüpfen. Doch sein Gott erschafft die Welt nicht aus demNichts. Wie fast alle Philosophen der Antike glaubt auch Boethius, dass der Kosmos ewig ist und dass aus »nichts« nichts entstehen
kann. Sein Gott ist, wie es im Buch heißt, »selbst nimmer bewegt, bewegend das Weltall« und das »All vom Urbild her« leitend.
Er ist kein persönlicher Gott, sondern – in Anlehnung an den »unbewegten Beweger« in der
Metaphysik
des Aristoteles, an die Idee des Guten in der Philosophie Platons und an das »Eine« Plotins – ein kosmologisches Prinzip,
das die Welt schafft, indem er als Urbild und Zielpunkt aller Wirklichkeit den gesamten Kosmos in Bewegung hält und ihm eine
Art »Wirklichkeitsenergie« verleiht. Der Mensch ist durch seine Vernunft fähig, sich auf dieses göttliche Wirken auszurichten
und sich mit ihm in Einklang zu setzen. Darin besteht die Verwirklichung seines Glücks. Es ist, so könnte man sagen, ein Glück,
das in der Kontemplation der ewigen kosmischen Gesetzmäßigkeit liegt. Wie Plotin und die Neuplatoniker glaubte auch Boethius,
dass durch eine solche Teilhabe am göttlichen Wirken auch der Mensch göttlich wird.
Mit der Identifizierung von »Glück« und »Gott« wird die Verbindung zwischen Ethik und Metaphysik offensichtlich. Deshalb sind
auch im anschließenden Verlauf des Zwiegesprächs zwischen Boethius und der Philosophie ethische und metaphysische Fragen eng
miteinander verschränkt. Sie alle umkreisen das Problem, wie dieser vollkommene Gott mit unserer Erfahrung der Welt in Übereinstimmung
zu bringen ist, ein Problem, das die monotheistischen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam bis heute beschäftigt.
Dazu gehört das sogenannte »Theodizee«-Problem (von griech. »theos« = Gott und griech. »dike« = Recht), das Problem also,
wie sich die Idee eines allmächtigen und guten Gottes mit der Realität des Bösen in der Welt vereinbaren lässt. Eigentlich
müsste ein solcher Gott das Böse verhindern. Wenn er kann, aber nicht will, ist er kein guter Gott. Wenn er will, aber nicht
kann, ist er nicht allmächtig.
Hier bietet das Buch eine typisch neuplatonische Lösung an: Das Böse hat nämlich, im strengen Sinne des Wortes, gar keine
eigene Wirklichkeit. Wirklich im eigentlichen Sinne ist nur das, was von Gott durchdrungen ist. Für Boethius gibt es also
zwei verschiedeneArten des Seins: die eigentliche Art, die in Übereinstimmung mit der Weltvernunft steht; und eine negative Art, die in der
Entfernung von Gott als der wahren Wirklichkeit besteht. Das Böse, das wie alles nach der göttlichen Wirklichkeit strebt,
hat sich im Weg geirrt und ist vom Pfad der Weltvernunft abgewichen. Es existiert im »eigentlichen« Sinne nicht, weil, wie
Boethius im 4. Buch schreibt, dasjenige aufhört zu sein, »was vom Guten abfällt«. Das Böse ist nichts anderes als eine negative Art des Seins,
ein »Nicht-Sein«.
Weitere Kostenlose Bücher