Das Niebelungenlied
Mittelalter verändert haben, es sind doch dieselben Städte, was die Schreibung Wormez , Santen und Passouwe verschleiert hätte. Und der Rhein und die Donau würden als Rîn und Túonóuwe ganz zu Unrecht unkenntlich oder verfremdet. Ebenso schien es uns verfehlt, von den Hiunen oder Heunen statt von den Hunnen zu handeln. Übersetzung ist mitunter bis in die Buchstaben hinein ein Balanceakt und Kompromiß.
Obwohl die Namen und ihre Wiedergabe also kein Randproblem sind, wird die eigentliche Bedeutung des Textes davon gleichwohl nur wenig berührt. Auf den Rang, die literarhistorisch erschlossene Entstehung, die exemplarische Bedeutung und die Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes mußte aber zumindest in den Grundzügen in einem Nachwort eingegangen werden, das der Ausgabe beigegeben werden sollte. Diese Erläuterungen zu formulieren, sah Johnson als seine genuine Aufgabe an, die er sich von Anfang an ausbedungen hatte. Daraus ergab sich in der Folge eine ganz besondere Merkwürdigkeit der Publikationsgeschichte.
Wir hatten die Übersetzung vertragsgemäß fertiggestellt und dem Verlag übergeben. Der überwies die fällige Rate, und wir konnten unseren Kontostand in der vorab verabredeten Weise ausgleichen. Bis zur Drucklegung folgten aber beim Verlag die DDR-üblichen Verzögerungen, zu denen neben den Gesprächen im Lektorat über die erwähnten unbotmäßigen Einschübe die Prüfung im Ministerium für Kultursowie germanistische Gutachten gehörten, die sich an dem nüchternen Prosatext rieben und mir einen längeren Disput mit Germanisten des Akademie-Instituts eintrugen. Am Ende aber blockierten alle diese Prüfungen die Veröffentlichung nicht. Sie hatten freilich eine unvorhersehbare Auswirkung, nämlich die, daß in der Zeit bis zum Erscheinen der Nummer 642 in der Universal-Bibliothek des Reclam-Verlages ein anderes Manuskript abgeschlossen worden war und im Suhrkamp Verlag sehr viel zügiger in eine ganz andere Öffentlichkeit kam – mit prekären Folgen für die im Druck befindliche Übersetzung.
»Am 10. Juli 1959 wurde in Eschwege, Hessen/Bundsrepublik, auf das Titelblatt eines Buches der Name seines Verfassers gesetzt. Am gleichen Tage fuhr der mit einer Schreibmaschine und einer Aktentasche auf der pritzwalker Strecke nach Süden [ ...]. Als er diesmal ausstieg im britischen Sektor von Berlin, verstand er es als einen Umzug. [ ...] Er hatte vor, ein Westberliner zu werden, mit dem verlassenen Lande durch seine Freunde verbunden.« 10
Als Republikflüchtling, der er gar nicht sein wollte, und als Autor von Mutmassungen über Jakob war Johnson über Nacht für die Behörden der DDR zur Unperson geworden, im amtlichen Sinne nicht existent. Dem damit verbundenen Verdikt unterlag selbstredend auch der Verlag Philipp Reclam jun. in Leipzig. Eine Publikation, in der Uwe Johnson in irgendeiner Form als Autor vertreten war, wurde für den Verlag damit schlechterdings unmöglich. So blieben für das Nibelungenlied zwei Möglichkeiten: Entweder das Buch erschien gar nicht, eventuell produzierte Exemplare müßten dann eingestampft werden – ein in der DDR keineswegs ungewöhnliches Ereignis –, oder der Name des Autors bzw. Übersetzers wurde einfach unterschlagen. Zu dieserMöglichkeit sollte sich 1961 die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung zu Leipzig mit Johnsons Einverständnis für seine Neuübersetzung von Herman Melvilles Israel Potter entschließen, wo eine ähnliche Lage entstanden war wie ein Jahr zuvor für den Reclam-Verlag beim Nibelungenlied . Die Situation unterschied sich beim mittelalterlichen Text allerdings durch die Beteiligung eines zweiten Übersetzers, was Anlaß zu einer besonders bizarren Konstruktion gab. Der Band642 von Reclams Universal-Bibliothek erschien 1960 mit folgender Titelei:
DAS NIBELUNGENLIED
Versroman in Prosaübertragung
NACHWORT VON MANFRED BIERWISCH
Wer nicht glauben wollte, daß neuhochdeutsche Prosaübertragungen vom Volksmund geschaffen werden oder – wie das Original – durch einen unbekannten Dichter, der mochte aus dem Nachwort ableiten, daß dessen Autor auch der ungenannte Übersetzer ist. Diese Folgerung liegt nahe, weil es im Nachwort ausdrücklich heißt »Einige Erklärungen zur Übersetzung scheinen erforderlich«. Die sind dann zwar streng unpersönlich formuliert und vermeiden jeden Bezug auf den Übersetzer. Dennoch ist der Schluß, daß der Nachwortautor seine eigenen Entscheidungen erläutert, nicht nur naheliegend, sondern eigentlich
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