Das Niebelungenlied
Interpretationen und Untersuchungen zu diesem Stoff ihr Rüstzeug erwarb und ihre Möglichkeiten erkannte. Friedrich Hebbel dramatisierte den Stoff, Richard Wagner schuf aus ihm den Opernzyklus »Der Ring des Nibelungen«. Die Besinnung auf die altdeutsche Kultur und die Versuche, sie mit der des Kaiserreiches zu verbinden, haben aber auch dazu geführt, daß während der Vorbereitung des ersten Weltkriegesder Begriff der »Nibelungentreue« zu den österreichischen Waffenbrüdern zu neuen und zweifelhaften Ehren kam, und das strahlende Heldenbild Siegfrieds nicht weniger als die düstere Härte Hagens standen beim Kämpfertypus des deutschen Faschismus Pate, wie die häufigen Bezüge der faschistischen Ideologie und diese Vorbilder erweisen; die heutige Jugend trägt in ihren Namen die Spuren der damaligen Aufnordung und Germanisierung. Unser Verhältnis zum Nibelungenlied wird nach all dem im Interesse an einem Literaturdenkmal bestehen, das zu den einflußreichsten Stücken der deutschen Überlieferung und den aufschlußreichen Gestaltungen des Mittelalters gehört. Mit seinen heute oft unverständlich oder unmenschlich wirkenden Zügen und seiner merkwürdigen Fabel gibt es interessierenden Einblick in vergangene Lebenszusammenhänge. So ist es kein unwichtiger Gegenstand für die Anteilnahme des Menschen an seiner Geschichte und an der Entwicklung der ihn umgebenden Gesellschaft.
Einige Erklärungen zur Übersetzung scheinen erforderlich. Zum ersten ist das Nibelungenlied ein Versroman, in rhythmisch sehr komplizierten vierzeiligen Strophen geschrieben, und zum anderen ist es eine Vorlesedichtung. Beides bedingt Züge, die moderner Epik strikt zuwiderlaufen. Da die Versform den Text in einer völlig fremden Ordnung dargestellt und ihn so dem heutigen Verständnis noch mehr entzogen hätte, haben Verlag und Übersetzer sich für die Wiedergabe in Prosa entschieden. Nur in ihr ist ein sachlicher und zugleich lesbarer Text möglich. Daraus ergibt sich, daß auch die festliche Gebärde des Vorlesers, der sein Publikum mit jedem Wort rühmend erheben will, nicht beibehalten werden konnte. Dennoch ist die Wiedergabe annähernd wörtlich. Bei den Personennamen wurde die mittelhochdeutsche Schreibung beibehalten, um den Abstandder Zeit durchaus zu betonen, die Ortsnamen erscheinen in der modernen Form, da die Ereignisse ja auf diese wirklichen Koordinaten bezogen sind. Allerdings waren Sinnverschiebungen in den Begriffen der mittelhochdeutschen Vorstellungswelt unvermeidlich, wo sie als moderne Vokabeln auftreten mußten. Der lose Satzbau der Vierzeiler wurde mitunter entscheidend geändert, da die Verknüpfungen, die die Strophenform gibt, entfallen; im allgemeinen ist für die akzentuierten Momente ebenso wie für die vorwiegend verbale Konstruktion ein entsprechender Ausdruckswert versucht worden. Die unablässig wiederholten dekorativen Zusätze oder Rückbezüge auf bereits Erzähltes wurden nur ausgelassen, wenn sie störend wirkten und offensichtlich nur zur Ausfüllung eines Verses eingesetzt schienen. Im übrigen hat die Sprache der Übersetzung die Einführung neuhochdeutscher Beziehungsformeln, Redensarten und Vergleiche tunlichst vermieden, um den Leser über Möglichkeiten und Grenzen des mittelhochdeutschen Ausdrucks nicht zu täuschen. Die Streichung oder Berichtigung sachlicher Irrtümer und Widersprüche verbot sich, da sie für das Verhältnis des letzten Dichters zur Aussage kennzeichnend sind und die Entwicklung des Stoffes in ihnen erscheint. Es versteht sich, daß bei diesen Forderungen keine künstlerische Prosa entstehen konnte. Es kann nicht verborgen werden, daß der Gestus der Sprache und das in ihr ausgedrückte Beziehungsverhältnis sich inzwischen so gewandelt haben, daß eine dichterische Neuformung den Text mit der Einführung neuhochdeutscher Äquivalente traulich, bis zum Kitsch, verfälscht hätte. Eine solche Nachdichtung wäre dem Problem unterworfen, wie ein vergangenes Zeitalter mit den sprachlichen Mitteln des gegenwärtigen zu übersetzen sei, und scheint uns für das Nibelungenlied, trotz neuester Versuche in dieser Richtung,nicht gut möglich. Darauf mußte zugunsten einer akkuraten Vermittlung verzichtet werden.
Der Text folgt der Ausgabe von Karl Bartsch und Helmut de Boor, Leipzig 1944, und ist den Formulierungen des Kommentars an mehreren Stellen verpflichtet. Für das Nachwort wurden die in den Forschungen von Andreas Heusler, Gustav Ehrismann und Helmut de Boor
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