Das Niebelungenlied
Beteuerung, Siegfried habe sie so sehr geschlagen. Kriemhilds Ende spricht dafür, daß der Dichter bei aller erzählerischen Notwendigkeit der Rachetat und trotz seiner Sympathie für gerade diese Gestalt doch nicht gewagt hat, ihre sittliche Unabhängigkeit bestehen zu lassen; zuletzt fällt sie, wie auch hier die Umstände beschaffen sind, wieder unter das männliche Gesetz. Der Ritter beweist seine Gefolgschaftstreue und seine Tapferkeit im Kampf, die vielfältig ausgebildeten Turniertechniken der höfischen Zeit sind hier zugunsten der letzten Entscheidung im Zweikampf mit dem Schwert vermieden. Es ist ehrenvoll, im Dienst des Königs getötet zu werden, sogar zu unterliegen ist keine Schande, wenn der Sieger ein Ritter von höherem Rang und berühmt ist. Die Kämpferpaare für die Schlacht am hunnischen Hof sind mit solchem sorgfältigen Bedacht auf gleichen Wert zusammengestellt. Das höfische Zeremoniell verwendet die feinsten Abstufungen auch für den Rang eines Ritters, seine Macht, den Wert der geleisteten Dienste; am offensichtlichstenerscheint diese empfindliche und bedeutsame Höflichkeit im Nibelungenlied bei den verschiedenen Botenauftritten. Die Christlichkeit ist dem Rittertum mehr oder weniger verlegen aufgesetzt. Der Gottesdienst und die kirchliche Hochzeit erscheinen als bloße Dekorationen, ebenso sind die dreiundachtzig Kirchen in Brünhilds Königsstadt wie Kriemhilds Furcht vor dem hunnischen Heidentum nur als verstärkende Akzente aufzufassen. Die wiederholten Anrufungen Gottes geschehen der Form halber und bedeuten nicht, daß die Ritter des Nibelungenliedes von einem göttlichen Willen die Abwendung ihres Schicksals erwartet hätten. Die einzige Gestalt, die den sittlichen Normen des 13. Jahrhunderts wirklich unterworfen wird, deren Tragik uns glaubwürdig und verständlich erscheint, ist Rüedegêr von Pöchlarn, eine Erfindung des letzten Dichters. In dem Widerstreit der beiden unlösbaren Eide, der Treue gegen den Dienstherrn und der gegen die Freunde, gibt es nur den tödlichen Ausweg, aber Rüedegêr ist der einzige Ritter, dem sein Leben damit nicht zur völligen Ehre und Erledigung gebracht ist: Er fürchtet, an seiner Seele Schaden zu nehmen, obwohl der Verrat ihm abgezwungen ist. Er verrät die Freunde jedoch eher, weil ihm so der Tod sicher ist, denn er hätte als Ritter nicht mehr leben können, nachdem er seinen König verlassen hätte. Um das Ansehen der Spielleute zeigt der Dichter sich so besorgt, daß daraus zu schließen ist, er selbst gehörte diesem Stand an. Sobald ein Spielmann auftritt, ist die Aufzählung von Geschenken regelmäßig, und gewiß hat er die Gestalt Volkers von Alzey in so außerordentlichem Maße rühmend betont, ihn bis zu Hagens Ebenbürtigkeit und Freundschaft erhoben, um darzutun, man könne ein reicher, tapferer und angesehener Herr sein: und dennoch ein Spielmann. Daß Etzels Spielleute auf ihrer Botenreise ein Gefolge von Rittern haben, ist allerdings gewiß eine Wunschvorstellung gewesen.Sofort mit dem Niedergang und Verfall der ritterlichen Kultur geriet auch das Nibelungenlied in Vergessenheit. Im ganzen Mittelalter war es unbekannt, während die Lieder von Siegfrieds märchenhafter Kindheit, die aber immer ein eigenes Leben geführt hatten, sich bis 1500 in dem Volksbuch vom »Hürnen Seyfrid« lebendig erhalten. Erst im 18. Jahrhundert erschien eine Ausgabe des Textes, und die Romantik, die in der Beschäftigung mit den vergangenen Epochen der Kultur den zurückgelegten Weg zu erkennen und den klassischen Idealen eigene Leitbilder entgegenzusetzen suchte, hat sich das Nibelungenlied zu eigen gemacht und es dem deutschen Publikum übermittelt. Goethe stellt die Nibelungendichtung »dem Stoff und dem Gehalte nach neben alles, was wir poetisch Vorzügliches besitzen« (in einem Brief an v. d. Hagen, 18. Oktober 1807) und begründet gerade mit ihr seine Abneigung gegen die Romantik: »Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen so klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig« (Äußerung gegen Eckermann. Jubiläumsausgabe, 36, Seite LV). 1827 erschien die Übersetzung von Karl Simrock, die das Nibelungenlied vollends populär machte, ihr folgten viele andere, auch ins Französische und Englische. Die methodologische Bedeutung dieser Dichtung für die Wissenschaft von der deutschen Literatur ist unschätzbar, indem diese Disziplin in einer kaum zählbaren Menge von
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