Das Opfer
übergeben, und so konnte sie nicht wirklich einschätzen, wo O’Connell jetzt war. Entwich tatsächlich die Luft aus seinem Reifen, wie Scott ihr versprochen hatte? Hatte ihn das genügend lange aufgehalten? Die Frage, was wäre, wenn … tönte ihr schrill von allen Seiten entgegen wie die Dissonanz eines Symphonieorchesters mit verstimmten Instrumenten.
Sie warf einen Blick auf den Rucksack mit der Waffe und wehrte sich gegen den Drang, ihn einfach in eine Mülltonne hinter dem Gebäude zu werfen. Die Chancen wären immer noch groß, dass die Cops ihn dort fänden. Doch mit Sicherheit ließ sich das nicht sagen, und in einer Nacht, an der so viele Zweifel nagten, musste dieser Teil absolut zwingend sein.
Einen Moment lang starrte sie auf das Handy. Ihre Gedanken drehten sich um Hope.
Wo steckst du?, fragte sie stumm.
Ist alles in Ordnung?
Ihre Hände zitterten, und sie konnte nicht sagen, ob es aus Angst war, dass O’Connell sie erwischte und dadurch noch alles verdorben würde, oder aus Sorge um Hope. Sie versuchte, sich Hope vorzustellen und zu erahnen, was genau ihr passiert war, bemühte sich, in Scotts spärlicher Auskunft zwischen den Zeilen zu lesen, doch jeder Schritt in diese Richtung erfüllte sie mit noch mehr Panik.
O’Connell kam ihr mit jeder Minute, die sie verstreichen ließ, unaufhaltsam näher; sie spürte es förmlich. Sie wusste, dass sie unverzüglich handeln musste. Und doch war sie von der Ungewissheit wie gelähmt.
Hope war irgendwo da draußen und hatte Schmerzen; auch das spürte sie. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Sie stieß einen langen, leisen Seufzer aus.
Und dann packte Sally unter äußerster Aufbietung ihrer Willenskraft den Rucksack und stieg aus. Sie betete, dass die Nacht sie verhüllte, als sie mit gesenktem Kopf eilig die Straße überquerte. Sie wusste, dass sie nur irgendjemand zu sehen und später den Rucksack mit O’Connell und seiner Wohnung in Verbindung bringen musste, und sie flogen unweigerlich auf. Sie war klug genug, nicht zu rennen, sondern normal zu gehen. Blickkontakt mit einem Fremden wäre fatal gewesen. Irgendetwas, das sich in den nächsten Minuten irgendjemandem einprägen konnte, musste fatale Folgen haben. Für sie alle.
Sie wusste, dass sie sich in diesem Moment zu bewähren hatte, dass alles in der Schwebe hing. Der kleinste Fehler, den sie machte, hätte die schrecklichsten Konsequenzen für sie alle und möglicherweise auch für Ashley. Sie hatte die Mordwaffe in ihrem Besitz. Das Risiko war enorm.
Sally flüsterte sich zu: Geh weiter.
Als sie den Eingangsflur durchquerte, hörte sie Stimmen im Fahrstuhl, und so duckte sie sich ins Treppenhaus und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, hinauf.
Sie wartete hinter der Brandschutztür und versuchte, daran zu horchen, doch als sie merkte, dass das nicht möglich war, öffnete sie sie und lief den Flur entlang zu O’Connells Wohnung. Wie schon einmal an diesem Tag hielt sie Mrs. Abramowicz’ Schlüssel in der Hand. Eine schreckliche Sekunde lang stellte sie sich vor, er wäre drinnen und läge im Dunkeln auf dem Bett. Für diesen Fall musste sie sich etwas einfallen lassen. Wenn er nun tatsächlich zu Hause war? Wenn er auftauchte, bevor sie fertig war? Wenn er sie im Hausflur entdeckte? Im Fahrstuhl? Auf der Straße? Was sollte sie dann sagen? Würdesie mit ihm kämpfen? Würde sie versuchen, sich zu verstecken? Würde er sie überhaupt erkennen?
Ihre Hand zitterte vor lauter Fragen, als sie die Tür aufschloss.
Sie trat hastig ein und machte hinter sich zu.
Sie horchte auf Atemgeräusche, auf Schritte, die Toilettenspülung oder das Tippen auf einer Tastatur – irgendetwas, das ihr sagte, dass sie nicht alleine war –, doch sie hörte nichts außer ihrem gequälten Atem, der mit jeder Sekunde, die verstrich, lauter und schneller zu werden schien. Mach schon! Mach endlich, du hast keine Zeit!
Geduckt huschte sie durch die Diele, wagte nicht, Licht zu machen, verfluchte sich, als sie gegen eine Wand stolperte. Durch die Schlafzimmerfenster drang ein Schimmer von einer Straßenlampe, so dass sie gerade noch genug sehen konnte. Sie erblickte sich im Spiegel und hätte beinahe aufgeschrien.
Sie schoss zum Kleiderschrank, machte in panischer Hast den Reißverschluss des Rucksacks auf und holte die Waffe heraus. Sie roch den beißenden Gestank nach Benzin, so wie Scott es vorausgesagt hatte. Rasch kniete sie sich nieder, schob die Pistole wieder in den Stiefel und stopfte die Socke
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