Das Paradies am Fluss
denke und mich frage, was aus ihr hätte werden können. Ob ihre Kinder heute zusammen mit Ben und Jules hier wären.« Sie umklammerte Kates Arm. »Ich führe einen ziemlichen Kampf mit meinen Dämonen, und ich muss mir ins Gedächtnis rufen, was mein alter Dad zu sagen pflegte: ›Lass dich nicht unterkriegen.‹ Er fehlt mir immer noch.«
»Mir auch«, meinte Kate betrübt. »Ich habe ihn so gerngehabt! Oh Gott, Cass! All diese Geister!«
Und dann tauchte plötzlich Jess neben ihnen auf. Sie strahlte vor lauter Glück, sie zu sehen; und angesichts ihrer Lebensfreude lösten sich die Geister in Luft auf.
»Ich habe etwas für Sie«, erklärte sie Kate und zog sie beiseite. »Meine Art, Ihnen dafür zu danken, dass Sie das alles ermöglicht haben. Kein Weihnachtsgeschenk, sondern etwas Wichtigeres. Wenn Sie mich nicht eingeladen hätten, mir das Cottage zur Verfügung gestellt und mich dann mit an den Tamar genommen hätten, hätte ich nie etwas von alldem erfahren. Wie kann ich Ihnen je genug dafür danken? Jedenfalls hoffe ich, es gefällt Ihnen. Und wissen Sie was? Auf dem Weg hierher dachte ich, dass Sie vielleicht zu Weihnachten kommen und bei Will und mir im Segelloft wohnen könnten.«
Kate brach in Gelächter aus. »Das ist jetzt ein Angebot, dass ich beinahe nicht ablehnen kann, aber trotzdem nein, meine Liebe. Dennoch danke ich Ihnen.«
»Johnnie hätte nichts dagegen«, versicherte Jess. »Und Sophie auch nicht. Doch ich habe ihnen gesagt, dass Sie wahrscheinlich lieber mit Ihrer eigenen Familie feiern. Jedenfalls ist hier Ihr Geschenk, und noch einmal danke, Kate.«
Sie reichte ihr ein kleines Päckchen. Kate nahm es, wog es in der Hand und zog erstaunt die Augenbrauen hoch, denn es war schwer.
»Sehr geheimnisvoll«, meinte sie. »Danke, Jess. Lassen Sie uns im neuen Jahr ein Treffen vereinbaren!«
Und als Kate jetzt in der Kirche sitzt, dreht Jess sich um und lächelt ihr zu. Sie erwidert das Lächeln, und Glück und Dankbarkeit angesichts all dieser neu erblühten Freundschaft und Liebe erfüllen sie. Diese Gefühle erstrecken sich in die Vergangenheit und zu anderen geliebten Menschen, aber sie strahlen auch in die Zukunft aus. Sie wünscht, David hätte Jess noch kennengelernt.
Die Orgelmusik wechselt von Bach zu den Anfangsakkorden von Once in Royal David’s City , und mit einem Mal tritt ein erwartungsvolles Schweigen ein. Der Chor bewegt sich vom hinteren Teil der Kirche nach vorn, die Gemeinde erhebt sich, und Kate nimmt das Blatt mit den Texten zur Hand, um das erste Lied mitzusingen.
Das Päckchen bleibt auf dem großen Tisch liegen, bis Kate sich umgezogen hat. Jetzt trägt sie Jeans und Stiefel und hat sich ein Kaschmirtuch umgelegt. Sie brüht sich Tee auf und trägt die Tasse ins Wohnzimmer. Noch immer bibbert sie. Der Heimweg durch den tiefen, vereisten Schnee, in dem sie immer wieder ausgeglitten ist, war mit dem kleinen Päckchen nicht einfach.
Sie stellt den Becher auf den Tisch und beginnt noch im Stehen, an dem Klebeband zu zupfen, von dem das dicke braune Packpapier zusammengehalten wird. Nachdem sie das Papier durchgerissen hat, erblickt sie eine selbst gefertigte Hülle aus Wellpappe. Sie löst das Klebeband, die Hülle fällt ab, und zum Vorschein kommt ein Aquarell in einem filigran geschnitzten Holzrahmen.
Rasch nimmt Kate das Bild in die Hand und schaut es an. Eine schimmernde Wasserfläche in der Abenddämmerung und auf dem gegenüberliegenden Ufer ein Rasen, auf dem im letzten Licht der untergehenden Sonne gerade eben noch Gestalten zu erkennen sind. Mit leichten Pinselstrichen – hier ein Stück heller Chiffon, dort ein Fleck scharlachroter Seide – sind schlanke junge Frauen umrissen, während dunklere Silhouetten und das weiße Aufblitzen von Hemdbrüsten hochgewachsene, elegante Männer darstellen. Winzige bunte Lichter verteilen sich über die Szene und spiegeln sich im Wasser. Die Steinbalustrade ist eingezeichnet, und hier steht eine größere, massivere Gestalt, reglos und distanziert: die Circe, die flussabwärts schaut. Der Seegarten.
Kate setzt sich und neigt das kleine Gemälde; sie staunt über das Schimmern des Zwielichts auf dem Wasser, das die Künstlerin eingefangen hat, die Andeutung von Bewegung unter den schattenhaften Gestalten, die magische Ausstrahlung. Als sie jetzt genauer hinsieht, stellt sie fest, dass quer über die Ecke des schmalen, grauen Passepartouts etwas geschrieben steht.
Danke für alles. Es war vollkommen. Alles Liebe,
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