Das Paradies ist anderswo
bisweilen in Alpträumen verfolgte. Er wollte ihm erzählen, daß er vor zwölf Jahren, im Juni 1891, als er zum ersten Mal nach Tahiti gekommen war, den letzten der Maorikönige, König Pomare V., hatte sterben sehen, diesen riesigen, elefantösen Monarchen, dem endlich die Leber geplatzt war, nachdem er Monate und Jahre Tag und Nacht einen von ihm erfundenen mörderischen Cocktail getrunken hatte, der aus Rum, Brandy, Whisky und Calvados bestand und jedem normalen Menschen in wenigen Stunden den Garaus gemacht hätte. Und daß sein Begräbnis, begleitet und beweint von Tausenden von Tahitianern, die von der ganzen Insel und von den Nachbarinseln nach Papeete gekommen waren, prachtvoll und grotesk zugleich gewesen war. Doch er hatte das Gefühl, daß das ungewisse Gegenüber, an das er sich wandte, ihn nicht hören oder verstehen konnte, denn es neigte sich tief über ihn, streifte ihn fast, als wollte es etwas von dem auffangen, was er sagte, oder feststellen, ob er noch atmete. Es lohnte sich nicht, sprechen zu wollen, soviel Anstrengung auf die Worte zu verwenden, wenn niemand dich verstand, Paul. Tioka Timote, der Protestant war und nicht trank, hätte die lockeren Sitten des Königs Pomare V. mißbilligt. Mißbilligte er im stillen auch deine, Koke?
Dann fühlte er, wie eine endlos lange Zeit verging, ohne daß er wußte, wer er war noch was dies für ein Ort war. Doch mehr noch quälte ihn, daß er nicht herausfinden konnte, ob es Tag oder Nacht war. Da hörte er mit aller Deutlichkeit die Stimme Tiokas:
»Koke! Koke! Hörst du mich? Bist du da? Ich werde sofort Pastor Vernier rufen.«
Sein Nachbar, der gewöhnlich so unerschütterlich war, sprach mit unkenntlicher Stimme.
»Ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden, Tioka«, sagte er, und dieses Mal kam die Stimme aus seiner Kehle, und sein Nachbar hörte sie.
Kurz darauf vernahm er, wie Tioka und Vernier eilig die Leiter heraufstiegen, und sah sie mit beunruhigten Gesichtern in das Atelier treten.
»Wie fühlen Sie sich, Paul?« fragte der Pastor, während er sich neben ihn setzte und ihm die Schulter tätschelte.
»Ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden, einmal oder zweimal«, sagte er, sich unruhig bewegend. Er bemerkte, daß seine Freunde nickten. Sie lächelten ihn gezwungen an. Sie halfen ihm, sich im Bett aufzurichten, gaben ihm ein paar Schlucke Wasser zu trinken. War es Tag oder Nacht, Freunde? Kurz nach Mittag. Doch die Sonne schien nicht. Der Himmel hatte sich mit schwärzlichen Wolken bezogen, und es würde jeden Augenblick zu regnen beginnen. Die Bäume, Sträucher und Blumen von Hiva Oa würden einen betäubenden Duft verströmen, das Grün der Blätter und Zweige würde tief, wie flüssig sein, und das Rot der Bougainvilleen würde lodern. Du fühltest dich ungeheuer erleichtert, weil deine Freunde hörten, was du zu ihnen sagtest, und weil du sie hören konntest. Nach einer Ewigkeit führtest du wieder ein Gespräch und nahmst die Schönheit der Welt wahr, Koke.
Er bat sie mit Zeichen, sie sollten ihm das kleine Bild bringen, das ihn schon seit so langer Zeit begleitete: die schneebedeckte Landschaft der Bretagne. Er hörte, wie sie sich im Atelier bewegten; sie schleppten eine Staffelei herbeiund brachten sie zum Knarren, weil sie bestimmt die Schrauben justierten, damit die weiße Landschaft gegenüber seinem Bett die richtige Stellung einnahm und er sie sehen konnte. Er sah sie nicht. Er erkannte nur ein paar vage Formen, von denen eine die Bretagne sein mußte, die von einem Sturm weißer Flocken überrascht worden war. Doch auch wenn er sie nicht sah, tröstete es ihn doch, zu wissen, daß diese Landschaft da war. Ihn schauerte, als schneite es im Haus der Wonnen.
»Haben Sie Salammbô gelesen, diesen Roman von Flaubert, Pastor?«
Vernier bejahte, wenn er auch, wie er hinzufügte, sich nicht genau an ihn erinnern könne. Eine heidnische Geschichte über Karthager und Barbaren, die Söldner waren, nicht? Koke versicherte ihm, der Roman sei wunderschön. Flaubert habe mit flammenden Farben die ganze Stärke, Lebenskraft und schöpferische Fähigkeit eines barbarischen Volkes beschrieben. Und er zitierte den ersten Satz, dessen Musikalität ihn entzückte: » C’était à Mégara, faubourg de Carthage, dans les jardins d’Hamilcar . Exotismus ist Leben, nicht wahr, Pastor?«
»Es freut mich sehr, zu sehen, daß es Ihnen bessergeht, Paul«, hörte er Vernier sanft sagen. »Ich muß jetzt die Schulkinder unterrichten. Macht es
Weitere Kostenlose Bücher