0133 - Der Mumienfürst
Die elektrische Uhr in der Polizei-Präfektur von Cuzco zeigte genau Mitternacht an, als die Erde zu beben begann. Menschen stürzten auf die Straßen, bekreuzigten sich, starrten zu den Bergen hinauf. Fensterscheiben klirrten, die wenigen Straßenlaternen zitterten, Teller, Tassen und Gläser begannen auf Tischen zu tanzen.
Nach zwei Minuten war alles vorbei. In Cuzco gingen die Menschen wieder schlafen. Nicht jedoch in Urubamba, der kleinen Stadt im Nordosten, jenseits des Flusses.
Dort hatten die Leute das Poltern, Dröhnen und Wummern deutlicher gehört, dort hatten die Häuser nicht nur gebebt, sondern geschwankt, und es war schon ein Wunder, daß keine der Adobehütten eingestürzt war.
In den schlecht gepflasterten Straßen, von denen es nur vier gab, zeigten sich Risse. Ein Stück der Brunneneinfassung auf dem Marktplatz bröckelte ab und stürzte in den Schacht. Der Fahnenmast vor dem Bürgermeisteramt brach genau in der Mitte durch und zerschlug das Dach der Polizeistation.
Fast alle Einwohner hatten sich auf dem Marktplatz eingefunden. Sie machten ängstliche Gesichter. Frauen verhüllten das Antlitz, schlugen immer wieder das Kreuz. Männer debattierten, deuteten wiederholt zu den Bergen hinauf, die im Licht des Mondes und im eigenen Schatten wie drohende Ungeheuer wirkten.
»Ich hab’ sie gesehen!« hörte man plötzlich eine Stimme. »Sie waren wieder da! Madre de dios… Steh uns bei!«
Ein Mann kam die Hauptstraße herunter gerannt. Ein Indio mit Topfhut, Poncho, zerfransten Hosen und Strohsandalen.
Einer der beiden Polizisten trat ihm entgegen. Hinter ihm schob sich ein Priester zwischen die eng gedrängt Stehenden.
»Red nicht solchen Blödsinn, Marco!« brüllte der Polizist, wurde jedoch von dem Priester beiseite geschoben.
»Lassen Sie ihn, Sanchez!« sagte er. »Komm her, Marco!«
Der Indio blieb heftig atmend vor den beiden stehen. »Wirklich, Padre, ich hab’ sie wieder gesehen! Sie ritten durch das Tal.«
Der Geistliche schlug ein Kreuz. »Gut, mein Sohn, du hast sie also gesehen. Wie viele waren es?«
»Sechs, Padre, sechs! Der Herr steh’ uns bei! Es war furchtbar! Sie müssen direkt aus der Hölle gekommen sein! Fragen Sie Angelo, Padre! Dort kommt er!«
Er drehte sich um, wies auf einen alten Mann, der - auf einen derben Knotenstock gestützt - auf sie zuhumpelte.
Der Priester unterdrückte einen Seufzer. Ais der Polizist es bemerkte, meinte er spöttisch:
»Die spinnen doch beide, Hoch würden! So was…«
»Sie sollten nicht spotten, Sanchez«, wies ihn der Geistliche zurecht.
Inzwischen war der weißhaarige Alte herangekommen. Das Mondlicht war hell genug, um erkennen zu können, daß sein Gesicht von Hunderten von Falten durchzogen war und aussah wie uraltes Pergament.
»Stimmt das, was Marco erzählt hat?« wandte sich der Padre an ihn. »Ihr habt sie gesehen? Wie viele waren es, Angelo?«
Der zahnlose Mund öffnete sich. »Sechs, Padre! Auf schneeweißen Pferden. Sie ritten durch die Lüfte! Sechs Mumien in goldbestickten Kutten. Ihre Augen glühten wie Feuer.«
»Solchen Blödsinn könnt nur ihr beiden Spinner ausbrüten«, lachte der Polizist. »So was gibt’s nicht!«
Der Priester warf ihm einen bösen Blick zu. Der Polizist tippte respektlos gegen die Schläfe und trat drei Schritte zurück, grinste nur vor sich hin.
Idioten, dachte er, alle glauben an diesen Quatsch! Reitende Mumien! Na gut, ein kleines Erdbeben! So was passiert in dieser Gegend regelmäßig! Den Pfarrer versteh’ ich nicht! Der sollte diesen Hohlköpfen mal kräftig auf die Füße treten und ihnen die heidnischen Gedanken mit Feuer und Schwefel austreiben!
Daran dachté der Padre jedoch nicht. Er war lange genug am Rio Urubamba, um zu wissen, daß es nicht so einfach war, die Leute von ihrem Aberglauben und den Resten heidnischer Kultur zu befreien. Dazu gehörte Geduld. Unendlich viel Geduld und Verständnis. Beides hatte er.
»Ja, und unheimlich geleuchtet haben sie, Padre«, ließ sich Marco vernehmen. Er und der alte Angelo hüteten Schafe, Rinder und Lamas auf einer Wiese drei Meilen flußaufwärts.
Gerade wollte der Priester antworten, als sich die Menge hinter ihm teilte. Das Gemurmel der Menschen veranlaßte ihn, sich umzudrehen.
Durch die entstandene Gasse wankte ein Mann. Er war grauhaarig, trug Jeans und ein Safari-Hemd, das genauso blutverschmiert war wie sein hageres Gesicht.
»Professor«, stieß der Padre aus. »Was ist passiert? Sie sind verletzt!«
»Nicht der
Weitere Kostenlose Bücher