Das Paradies ist anderswo
ein. Ihr schien, daß sie sich, zumindest was die Beitragszahlungen betraf, überzeugen ließen. Aber wenn es um die Ehe ging, war ihr Widerstand hartnäckig.
»Sie greifen die Familie an und wollen sie abschaffen. Das ist nicht christlich, Madame.«
»Doch, doch«, antwortete sie, kurz davor, aufzubrausen. Aber dann ging sie zu einem milden Ton über: »Es ist nicht christlich, daß sich ein Mann im Namen der Heiligkeit der Familie eine Frau kauft, sie zur Kinderproduzentin,zum Lasttier macht und sie obendrein jedesmal, wenn er zuviel getrunken hat, verprügelt.«
Als sie bemerkte, daß die Zuhörer verwirrt die Augen aufrissen, schlug sie ihnen vor, das Thema zu wechseln und sich lieber gemeinsam vorzustellen, welche Vorteile die Arbeiterunion den Bauern, Handwerkern und Lohnabhängigen wie ihnen bringen würde. Zum Beispiel die Arbeiterpaläste. In diesen modernen, luftigen, sauberen Räumlichkeiten würden ihre Kinder Schulbildung erhalten und könnten ihre Familien, falls nötig, sich von guten Ärzten und Krankenschwestern behandeln lassen oder sie selbst, wenn sie Opfer eines Arbeitsunfalls wurden. In diesen behaglichen Heimen könnten sie sich zur Ruhe setzen, wenn ihre Kräfte nachließen oder sie zu alt für die Werkstatt sein würden. Die trüben, müden Augen, die sie anschauten, belebten sich allmählich, begannen zu glänzen. Lohnte es sich denn nicht, einen kleinen Teil des Lohns zu opfern, um so etwas zu erreichen? Einige nickten zustimmend.
Wie ignorant, wie dumm, wie egoistisch waren doch viele von ihnen. Das wurde ihr klar, als sie ihrerseits Fragen stellte, nachdem sie ihnen Rede und Antwort gestanden hatte. Sie wußten nichts, entbehrten jeder Neugier und waren einverstanden mit ihrem animalischen Leben. Einen Teil ihrer Zeit und Energie auf den Kampf für ihre Brüder und Schwestern zu verwenden kostete sie große Überwindung. Ausbeutung und Elend hatten sie abgestumpft. Manchmal bekam man Lust, Saint-Simon recht zu geben: Das Volk war unfähig, sich selbst zu befreien, nur eine Elite wäre dazu imstande. Sie hatten sogar die bürgerlichen Vorurteile übernommen! Es fiel ihnen schwer, zu akzeptieren, daß es eine Frau war – eine Frau! –, die sie zum Handeln aufrief. Ein paar besonders dreiste Maulhelden führten sich arrogant wie Aristokraten auf, und Flora mußte sich zusammenreißen, um nicht zu explodieren. Sie hatte sich geschworen, daß sie während dieser einjährigen Reise durch Frankreich nicht ein einziges Mal dem Spitznamen Madame-la-Colère Ehre machen würde, mit dem sie JulesLaure und andere Freunde aufgrund ihrer Wutanfälle bisweilen bedachten. Am Ende versprachen die dreißig Schuster, sich in der Arbeiterunion einzuschreiben und den Tischlern, Schlossern und Kupferstechern, die mit ihnen zusammen der Gesellschaft ›Freiheitspflicht‹ angehörten, zu erzählen, was sie an diesem Morgen gehört hatten.
Als sie durch die krummen, gepflasterten Gassen von Auxerre in ihre Herberge zurückkehrte, sah sie auf einem kleinen Platz, der von vier Pappeln mit frisch gesprossenen silbrigweißen Blättern bestanden war, ein paar spielende Mädchen, die bei ihrem Hin und Her ständig wechselnde Figuren bildeten. Sie blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Sie spielten Paradies, das Spiel, das du deiner Mutter zufolge in den Gärten von Vaugirard unter dem lächelnden Blick Don Marianos mit deinen kleinen Freundinnen aus der Nachbarschaft gespielt hattest. Erinnertest du dich, Florita? »Ist hier das Paradies?« »Nein, mein Fräulein, das Paradies ist anderswo, fragen Sie an der nächsten Ecke.« Und während das Mädchen von Ecke zu Ecke nach dem unauffindlichen Paradies fragte, amüsierten sich die anderen damit, hinter seinem Rücken den Platz zu wechseln. Sie dachte daran, wie erstaunt sie gewesen war, als sie damals in Arequipa in der Nähe der Kirche La Merced plötzlich eine Gruppe von Jungen und Mädchen vor sich gesehen hatte, die im Eingang eines langgestreckten Hauses hin und her liefen. »Ist hier das Paradies?« »Das Paradies ist anderswo. Fragen Sie an der nächsten Ecke, mein Herr.« Dieses Spiel, von dem du geglaubt hattest, es sei französisch, war also auch peruanisch. Ja, warum auch nicht. War das Streben nach dem Paradies nicht universal? Sie hatte das Spiel ihren beiden Kindern, Aline und Ernest-Camille, beigebracht.
Sie hatte sich für jede Ortschaft, jede Stadt ein genaues Programm zurechtgelegt: Treffen mit Arbeitern, mit Zeitungsvertretern, mit den
Weitere Kostenlose Bücher