Das Paradies ist weiblich
Geschenken für diesen neuen Lebensabschnitt. Dann muss die Gefeierte zurück in den Tempel, wo
sie eine Kerze anzündet, damit die Götter wissen, dass sie, Sinshie, die jüngste Tochter Sanshies, jetzt offiziell eine Mosuo-Frau
ist. In der Zwischenzeit suchen die geladenen Familien die Ruhestätten ihrer Vorfahren auf und beten zu den Ahnen, dass sie
ihre Kinder beschützen mögen.
Als Sinshie aus dem Tempel zurückkehrt, überreicht die Mutter ihr eine silberne Kette, an der ein Schlüssel hängt. Mit einer
Brosche befestigt Sinshie sie an ihrem Kasack, den Schlüssel steckt sie unter den Gürtel. Auch wenn Han Tsie und seine Kollegen
noch nicht fertig mit den Bauarbeiten sind, weiß die junge Frau, dass sie ab jetzt über ein eigenes Reich verfügt, in dem
sie ihre Verehrer empfangen kann, und dass ihr Nächte bevorstehen, in denen sie endlich erleben darf, was ihre Schwestern
seit einiger Zeit schon erleben.
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In einem Matriarchat gelten die Prinzipien der Matrilinearität – der Verwandtschaftsrechnung über die Mutterlinie – und der
Matrilokalität, die gegeben ist, wenn die Kinder unter dem Dach der Mutter leben, auch wenn sie bereits erwachsen sind und
eigenen Nachwuchs haben.
Doch scheint es mir, dass ein Matriarchat nicht nur eine Frage von Regeln und Gesetzen ist, sondern vor allem eine Frage der
Einstellung und des Umgangs damit. Bei den Mosuo spürt man das Gewicht der weiblichen Hierarchie im täglichen Leben. Nicht
so in einigen anderen sogenannten gynaikokratischen Kulturen, wo die Frauen zwar rechtliche Privilegien in Bezug auf die Erbfolge
und Namensgebung genießen, sich trotz dieser Vorrechte jedoch ihre gesellschaftliche Stellung kaum von der in einem klassischen
patriarchalischen System unterscheidet. Als ich etwa unter Khasi und Jaintia in Meghalaya Interviews führte, kam es mehrfach
vor, dass ein Mann seine Frau während |54| des Gesprächs unterbrach oder gar nicht zu Wort kommen ließ und sogar auf Fragen antwortete, die ihre innersten Gefühle betrafen.
Für mich definiert sich ein Matriarchat also deutlich auch über die starke Figur der Matriarchin, und aus diesem Grund möchte
ich unbedingt die Frau kennenlernen, die an der Spitze der Mosuo-Gemeinschaft steht, mich interessiert, ob ihr Führungsstil
dem starker Frauen in politischen Führungspositionen in westlichen Breiten entspricht. Ich will herausfinden, mit welcher
Methode die oberste Matriarchin dafür sorgt, dass die Gesetze eingehalten werden.
Sanshie zeigt mir, als ich sie auf dem Weg zur Feldarbeit begleite, wo das Oberhaupt wohnt. Es ist ein Haus wie jedes andere,
mit Kindern im Hof und Frauen, die geschäftig umherlaufen und Anweisungen geben. Ich lasse Sanshie auf ihrem Acker zurück
und bitte Lei, mich zu Lu Gu zu begleiten.
»Ist es nicht besser, einen Termin auszumachen?«, fragt er zögerlich.
»Mit Sicherheit, aber wir versuchen einfach unser Glück.«
Ein Mann fängt uns an der Haustür ab, ich frage ihn nach Lu Gu Pintsa.
»Das bin ich«, erwidert er.
|55| Verwirrt schauen Lei und ich uns an. Wir waren darauf eingestellt, die oberste Matriarchin zu befragen, und jetzt entpuppt
sie sich als Mann.
»Ja, das bin ich«, sagt er noch einmal.
Ein Mann. Das Dorfoberhaupt der Mosuo ist ein Mann. Lu Gu Pintsa, Pintsa, der Name seiner Mutter. Er ist zweiundvierzig, und
man braucht ihn nur anzuschauen, dann ahnt man, warum er zum Chef taugt. Er ist größer als die anderen, hat einen athletischen
Körperbau und einen aristokratischen Habitus. Er trägt einen hellen Anzug und ein offenes weißes Hemd. Zweifellos ist er über
meine Anwesenheit im Dorf informiert, aber er hat in diesem Augenblick nicht mit mir gerechnet. Sein Auftreten ist liebenswürdig,
aber bestimmt, keine Spur von der üblichen Scheu seiner Landsleute. Er weiß nicht recht, was er mit mir anfangen soll. Es
ist offensichtlich, dass er Wichtigeres zu erledigen hat, aber nicht unhöflich sein will. Er lädt mich ein, ihn zu begleiten.
Wir gehen die Straße hinunter und kommen an einem Geschäft vorbei, vor dem ein paar Männer zum Kartenspiel zusammengefunden
haben. Sie fordern Lu Gu auf, sich ihnen anzuschließen, doch er entschuldigt sich.
»Sind Sie schon lange im Amt?«, erkundige ich mich, als wir weiterziehen.
|56| »Ein bisschen länger als ein Jahr, es ist meine zweite Amtszeit.«
»Wie werden Sie gewählt?«
»Durch das Votum der Einwohner.«
Als wir um eine Ecke
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