Das Paradies ist weiblich
Entwicklungsperspektiven
auf dem Land an den Pranger gestellt. Ein Paradox.
Rugeshi Ana erzählt mir, sie habe sich während ihres Studiums auf Themen spezialisiert, die ethnische Minderheiten betreffen.
Im Augenblick macht sie Urlaub bei ihrer Familie in Luoshui.
Ich erkundige mich, ob sie einen Unterschied zwischen sich und anderen Mädchen in ihrem Alter empfinde.
»Ja, klar. Alle wollen heiraten.« Rugeshi Ana kann nicht verstehen, dass ihre Kommilitoninnen zugleich unabhängig und verheiratet
sein wollen. Es ist ihr ein Graus, wenn sie sieht, wie sie sich um einen Mann streiten.
Sie hingegen fühlt sich unabhängig. Dabei kann sie auf den Rückhalt ihrer Familie zählen. Männer und Frauen, findet sie, können
den Partner wechseln, so oft sie wollen und wann sie wollen. Eifersucht und Tratsch, das sind Sachen, die ihre Freundinnen
umtreiben. Ihr geht es nicht darum, um |65| jeden Preis einen Mann abzukommen, sie will die Liebe finden.
»Liebe und Lebensgemeinschaft, das geht für mich nicht zusammen. Für mich ist die Liebe das Einzige, was mich an einen Mann
binden kann. Meine Kultur erlaubt mir das, ohne dass ich auf andere Dinge Rücksicht nehmen muss. Ich verstehe nicht, wie meine
Freundinnen diese Freiheit aufgeben und so denken können, wie sie denken. Sie heiraten, weil sie eine Familie haben wollen.
Ich hingegen glaube, die beste Art, eine Familie zu haben, ist gerade, nicht zu heiraten.«
Die Familie im Matriarchat ist unvereinbar mit der Ehe, alle Mitglieder sind Blutsverwandte. Sexualität und Verliebtsein,
so wunderbar und lustbringend beides sein mag, bergen einen hohen Grad an Instabilität und führen bei den Mosuo nie zur Gründung
eines Haushalts. Das schützt sie vor der Gefahr – sollten sie sich verlieben, und es geht schief –, ihre Liebe und die Familie
zugleich zu verlieren. In der Anschauung der Mosuo ist die Liebe das absolute Gegenteil von Verpflichtung, ein Gefühl, das
nicht durch den Kunstgriff einer Heirat reglementiert werden kann. Die Angst, verlassen zu werden oder allein zurückzubleiben,
kennt man in Luoshui nicht.
Die Begegnung mit Rugeshi Ana ist ein Glücksfall. |66| Wir verstehen uns prächtig, so dass ich sie gefragt habe, ob sie mir nicht in den nächsten Tagen bei meiner Reportage behilflich
sein möchte. Begeistert stimmt sie zu und schlägt vor, das Heimatdorf ihrer Großmutter aufzusuchen, wo ein Teil ihrer Familie
bis heute verwurzelt ist.
Nachdem ich ihr in Grundzügen das Funktionieren der technischen Ausrüstung erläutert habe und wir uns auf ein paar grundsätzliche
Interviewfragen verständigt haben, machen wir uns auf den Weg. Sie warnt mich vor: In dieses Dorf haben sich noch nie Leute
aus dem Westen verirrt – jetzt ist die Begeisterung ganz auf meiner Seite.
Als wir in den Jeep steigen, muss ich schmunzeln: Der Parkwächter, ein schmerbäuchiger Mann mit Dreitagebart und in verschossener
Militärkluft, zu der er Sandalen trägt, sieht aus wie ein Soldat, der am Ende der Welt von seiner Kompanie zurückgelassen
wurde und dem man aus Nachlässigkeit vergessen hat mitzuteilen, dass der Krieg zu Ende ist.
Während der Fahrt stellen Rugeshi Ana und ich fest, dass wir beide einen Großteil unserer Zeit in Städten verbringen, die
versuchen, Anschluss an das zu finden, was die westliche Welt als Entwicklung bezeichnet. Beide bedauern wir, wie schnell
Traditionen verschwinden können, wenn sie mit |67| mit den Errungenschaften der globalen Konkurrenz konfrontiert werden.
Trotz einiger Ansichten, die wir teilen, wird mir jedoch immer wieder bewusst, dass die Ähnlichkeit zwischen Rugeshi Ana und
mir eine Illusion ist. Ja, wir tragen die gleichen Klamotten, und ja, sie studiert Journalismus in einer Millionenstadt. Doch
im Grunde ihres Herzens ist sie eine Mosuo, ist sie tief mit der Kultur, den Sitten und Gebräuchen ihres Volkes verbunden.
Sie hat andere Wertmaßstäbe als ich, lebt nach anderen Regeln und Geboten.
Aber gerade das macht es so interessant, mich gemeinsam mit ihr auf diese Interviewreise ins Hinterland zu begeben.
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Mit einem Tibeter, einem jungen Chinesen und einem Mosuo-Mädchen in einem Jeep auf unwegsamer Strecke am Ende der Welt, komme
ich mir vor wie ein Abenteuerheld.
Yunnin liegt fernab vom Lugu-See in etwa 2600 Meter Höhe und ist nicht nur vor Touristen aus dem Westen sicher. Es ist sogar
sicher vor Besuchern aus dem übrigen China.
Mir fällt auf, dass
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