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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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ihrer Eltern, und im Alter sind die meisten auf sich gestellt. Niemand
     kümmert sich um sie. Bei |60| uns ist das anders. Unsere Großmütter, die alten Onkel und Tanten leben mit den jüngeren Familienmitgliedern unter einem Dach,
     sie sind Blutsverwandte, also in den Familienalltag eingebunden. Unsere jungen Leute verlassen das Elternhaus nicht wie bei
     den Han, um zu heiraten. Sie heiraten gar nicht. Das und die Tatsache, dass wir allen Besitz in die Hände einer Matriarchin
     legen, führen dazu, dass die Mosuo wirtschaftlich besser dastehen als die Han, die ihr Hab und Gut unter ihren Kindern aufteilen,
     die wiederum Ehepartner und Kinder haben, mit denen sie teilen. Davon abgesehen, bringt diese Praxis immer Konflikte mit sich.«
    Das Problem der Versorgung der Alten und der Kinder scheint in der matriarchalischen Gesellschaft der Mosuo gelöst: Alle Mitglieder
     einer Familie leben auf demselben Grundstück, keiner verlässt durch Heirat das Haus, und alle kümmern sich um alle. Die Alten
     beanspruchen einen Teller mehr auf dem Tisch und ein warmes Plätzchen am Feuer. Die Kinder spielen im Innenhof unter der Aufsicht
     der Mütter, Großmütter, Tanten oder Onkel. Da alle arbeiten und der Besitz nie durch Erbe geteilt wird, wächst er. Keiner
     fängt ein neues Leben bei null an.
    »Wenn die Männer bei ihrer Herkunftsfamilie leben und nicht heiraten, wie sieht es dann mit emotionalen |61| Beziehungen oder Bindungen aus? Verspüren sie da nicht den Wunsch nach einer Gefährtin, jemandem, mit dem man Erlebnisse teilen,
     reden, Pläne schmieden kann?«
    Lu Gu Pintsa schaut mich verdutzt an. »Ein Mann kann viele Frauen kennenlernen, das ist hier kein Problem, es gibt unzählige
     Gelegenheiten. Und wenn man sich anständig benimmt, wird man auch erhört. Ansonsten hat man doch seine Familie. Ich brauche
     niemanden von außen, mit dem ich mein Leben teilen kann. Ich würde nie auf den Gedanken kommen, eine Frau aus einer anderen
     Familie könnte meine Familie sein. Meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder und die Kinder – das ist meine Familie.«
    »Aber werden Sie es nicht leid, immer wieder die Partnerin zu wechseln?«
    »Es kommt vor, dass eine Frau einen Mann besonders interessiert, und dann will er selbstverständlich mehr Zeit mit ihr verbringen.«
    Ich bitte Lei, er möge Lu Gu fragen, was er vorzöge: eine oder viele.
    Lei sieht mich entsetzt an. »Das kann ich unmöglich fragen.«
    Schweigen. Das Oberhaupt versteht nicht, was vor sich geht. Schließlich wagt sich Lei vor.
    Ich bekomme tatsächlich eine Antwort.
    |62| Lu Gu erklärt, dass alles seine Zeit habe. »Wenn sich die Liebe einstellt, ist es natürlich, dass man nur mit diesem einen
     Menschen zusammen sein will. Das passiert nicht von heute auf morgen, so etwas entwickelt sich über Monate … Aber wenn man
     eine Frau auswählt und spürt: die ist es und keine andere – dann hat man kein Interesse mehr, Ausschau nach anderen zu halten.«
    »Und was muss passieren, damit Sie sich in eine Frau verlieben?«
    Lu Gu Pintsa denkt einen Moment nach und sagt: »Wenn ich das wüsste, würde ich mich wahrscheinlich nicht verlieben.«

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    »Und wie heißt deine Großmutter?«, frage ich Rugeshi Ana, eine junge, moderne Frau, mit der ich mich ohne Dolmetscher auf
     Englisch unterhalte.
    Kaum hörbar flüstert sie: »Tsunami Ana. Aber ich darf ihren Namen nicht aussprechen. In ihrer Gegenwart schon gar nicht.«
     Sie senkt den Kopf und nimmt mich beiseite, damit wir unter vier Augen sprechen können. »Den Namen der Großmutter auszusprechen
     ist tabu.«
    Die alte Dame steht da, die Hände in die Seiten gestützt, und beobachtet uns.
    Lu Gu Pintsa hat mir Rugeshi Ana vorgestellt. Sie ist zweiundzwanzig und studiert Journalismus an der Central University for
     Nationalities in Peking, die hauptsächlich Studenten, die einer ethnischen Minderheit des Landes angehören, besuchen. Die
     Universität verschafft ihnen nicht nur Zutritt zur Bildung, darüber hinaus ist sie als Weg gedacht, die Studierenden zu einem
     Identitätswechsel zu animieren. Viele sehen nach Abschluss des Studiums |64| keine Möglichkeit, in ihren Dörfern zu arbeiten, und weil sie nach der Ausbildung in der Hauptstadt ihren Leuten fremd geworden
     sind, tendieren sie dazu, sich in die chinesische Gesellschaft zu integrieren.
    Andersherum betrachtet: Verweigerte man ihnen diese Chance, sähe sich der Staat wegen Diskriminierung und fehlender
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