Das Paradies
mich deshalb nur in Träumen an meine Vergangenheit erinnern?
Nachdenklich verrührte Khadija einen Löffel Honig in dem Fencheltee für ihre Schwiegertochter. Während sie Fatheja beim Trinken half, betrachtete sie aufmerksam den gewölbten Leib unter dem Satinlaken.
Fatheja öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Sie versuchte, nicht laut zu schreien, denn eine Frau, die bei der Geburt schwach wurde, entehrte die Familie. Khadija ersetzte das naßgeschwitzte Kissen durch ein trockenes und betupfte Fathejas Stirn.
»Bismillah!«
In Namen Gottes! flüsterte eine der jungen Frauen, die ebenfalls am Bett stand. »Was ist denn eigentlich mit ihr los?«
Khadija schlug das Laken zurück und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß das Baby sich unerklärlicherweise gedreht hatte und sich nicht länger in der normalen Geburtslage befand, sondern quer lag. Khadija mußte an eine andere Nacht vor beinahe dreißig Jahren denken. Sie war damals dreizehn gewesen und erst vor kurzem als Braut in das Raschid-Haus gekommen. Eine Frau lag in den Wehen, und das Kind hatte sich ebenfalls seitlich gedreht. Khadija wußte, daß damals Mutter und Kind gestorben waren.
Um ihre Besorgnis zu verbergen, redete sie beruhigend auf Fatheja ein und winkte Doreja, ihre geschiedene Stieftochter, die Weihrauch brannte, um damit Dschinns, Dämonen und andere böse Geister vom Kindbett zu vertreiben, mit einer Geste zu sich. Sie bat Doreja leise, ihre Nachbarin Marijam Misrachi zu holen. Marijam war ihre beste Freundin, und sie brauchte jetzt ihre Hilfe, denn sie mußten das Kind so schnell wie möglich in die normale Stellung mit dem Kopf nach unten drehen. Fatheja würde bald gebären, und wenn das Kind im Geburtskanal steckenblieb, dann waren sie verloren.
Nefissa bemerkte von dem Drama, das sich in dem großen Himmelbett vollzog, nur wenig. Ihr Rücken und ihre Schultern schmerzten, denn sie saß kerzengerade und blickte unverwandt auf die Straßenlaterne vor dem Haus. Sie mußte in dieser unbequemen Stellung sitzen, um die Straße hinter der hohen Mauer überhaupt sehen zu können. Sie starrte durch eine der vielen Öffnungen der Maschrabija, einem kunstvollen Flechtgitter, das noch aus den Zeiten des Harems stammte. Damals hatte es den Frauen ermöglicht, unbemerkt die Straße zu beobachten.
Nefissa saß nicht zum ersten Mal am Fenster. Khadija und die anderen Frauen wußten nicht, daß sie in den vergangenen zwei Wochen jeden Mittag und jeden Abend am Fenster gesessen und gewartet hatte.
Vom Dach konnte man normalerweise Kairos tausend Kuppeln und Minarette und an klaren Mondnächten die Pyramiden sehen, die auf der anderen Nilseite wie gespenstische Dreiecke in die Luft ragten. Aber weil der Chamsîn – auf arabisch »fünfzig«, weil der Wind fünfzig Tage wehte – einen Sandschleier über die Stadt legte, sah man an diesem Abend weder den Nil noch den Mond. Auch die Straßenlampen warfen nur einen gelblichbraunen Schein. Wenn hin und wieder ein Wagen vorbeifuhr, wirkten die Scheinwerfer wie trübe Augen.
Nefissa dachte enttäuscht: Heute wird er bestimmt nicht kommen!
Ihre Spannung stieg, als sie das Klappern von Hufen auf dem Pflaster hörte und eine Kutsche vorbeirollte. War die Zeit schon vorüber? Hat er mich möglicherweise nicht gesehen? Nefissa saß nicht am üblichen Fenster. Hatte er zu ihrem Schlafzimmer hochgeblickt, sie nicht gesehen, war enttäuscht weitergegangen und würde vielleicht nie mehr kommen?
Sie zog den seidenen Schleier fester vor das Gesicht; die anderen Frauen sollten ihre Enttäuschung nicht sehen, denn keine kannte ihr Geheimnis. Sie wären alle über ihr Verhalten entsetzt gewesen. Nefissa war erst seit kurzem Witwe, und man erwartete von ihr ein vorbildliches tugendhaftes Leben. Aber wie konnte man das von ihr, die gerade erst zwanzig geworden war, verlangen? Ihr Mann war ein Playboy gewesen, den sie kaum kannte. Er hatte sein Leben in Nightclubs verbracht, und Autorennen waren seine Leidenschaft gewesen. Ein paar Wochen vor der Geburt seiner Tochter Tahia war er in seinem Rennwagen tödlich verunglückt. Nefissa war drei Jahre mit einem Fremden verheiratet gewesen. Und jetzt sollte sie den Rest ihres Lebens um diesen Mann trauern?
Das konnte und wollte sie nicht.
Ein Stöhnen vom Bett riß sie aus ihren Gedanken. Die arme Fatheja. Sie empfand für ihre Schwägerin großes Mitgefühl, denn vor drei Jahren hatte sie in diesem Bett Omar zur Welt gebracht und erst vor einem Monat die
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