Das peinlichste Jahr meines Lebens
ich mein sogenannter Freund Paul Beary gewesen, hätte ich ihr wahrscheinlich nachgepfiffen und an den Trägern ihres Badeanzugs gezupft.
»So, Luce«, brummte Dave King und tippte auf die Weißwandtafel. Das tat er immer, wenn er in die technischen Einzelheiten ging. »Heute ist der achte September. Wir haben noch wenige Monate bis zu den Landesmeisterschaften, aber nur noch zwei Wochen bis zum Schwimmfest der Preston-Gilde. [5] Wir geben jetzt unser Äußerstes, Luce, also kein Nachlassen. Vierhundert Meter Kraul zum Aufwärmen. Achte auf lange Armzüge. Die ersten hundert Meter mit fünfzig Prozent, die zweiten mit fünfundsiebzig, die dritten mit neunzig und die vierten in vollem Wettkampftempo. Du darfst mit der linken Hand nicht aufs Wasser schlagen. Das kostet dich pro Bahn null Komma null fünf Sekunden und genau die können über eine Medaille …«
»… oder Blech entscheiden«, beendete Lucy den Satz, schob die Schwimmbrille zurecht und tauchte mit einem winzigen Spritzer ins Becken.
Dave lächelte, während sie wie ein Barrakuda durchs Wasser glitt. »Das ist mein Mädchen.«
Ich stand zitternd in der kalten Luft, und er beobachtete, wie sie durchs Becken schoss, blickte auf seine Stoppuhr und kritzelte irgendwas auf sein Klemmbrett.
Ein weiteres Mädchen durfte in Lucys Bahn schwimmen – sie hieß Emma, hatte Schultern wie ein Gewichtheber und besiegte beim Armdrücken fast alle Jungen im Verein. Manche Leute nennen sie hinter ihrem Rücken
Brutus, der Muskelprotz
. Ich finde das unfair, aber es beschreibt sie ganz gut.
Nach einer kurzen Einweisung von Dave sprang sie ebenfalls ins Becken und pflügte hinter Lucy durchs Wasser, wobei der Abstand zwischen ihnen mit jedem Armzug sichtlich wuchs. Dave murmelte vor sich hin, dass sie im Vergleich zu Lucy die Eleganz eines Nilpferds hätte. Das schien ihn ziemlich glücklich zu machen.
Ich räusperte mich. »Ähm, Dave.«
Dave fuhr herum und starrte mich zornig an, als hätte man mich gerade mit geplatzter Windel aus dem Babybecken gefischt. »Was ist, Martin? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?«
Ich versuchte zu lächeln. »Was soll ich denn jetzt machen?«
»Schwimm einfach ein bisschen rauf und runter«, sagte er und wedelte abweisend mit der Hand. »Kriegst du das hin? Ach, übrigens brauchen wir jemanden wie dich für unseren Festwagen beim Fackelumzug. Interesse?«
»Ja, bitte«, sagte ich schnell. Von der Website wusste ich, dass Lucy die Meereskönigin darstellen würde und man noch keinen König gefunden hatte.
»Gut. Wir brauchen jemanden, der sich als Seegurke verkleidet. Der andere Dickwanst ist aus dem Verein ausgetreten, als ich ihm gesagt habe, er soll eine Diät machen. Und jetzt rein ins Wasser und los, du verschwendest hier bloß unsere Zeit.«
Seinen wahnsinnigen, glubschäugigen Blick im Rücken, machte ich schnell einen Bauchklatscher in die Versagerbahn und schwamm prustend ein paar Mal auf und ab. Ich war dort der einzige Schwimmer.
Eine Seegurke zu sein, war vermutlich gar nicht so schlecht. Ich meine, ich wäre zwar lieber der Meereskönig gewesen, aber egal. Auf der Website stand, die Seegurken seien die Wächter der Königin. Es wäre schön, sie zu beschützen. Ich könnte sie vor dem Meereskönig beschützen und darauf achten, dass er seine salzigen Finger von ihr lässt.
Ein unerwünschter Unterwasseridiot
Während meiner dritten oder vierten Bahn begann alles schiefzulaufen.
Weiter vorn herrschte auf Lucys Bahn plötzlich helle Aufregung. Sie hatte mitten in der Bewegung aufgehört zu schwimmen und strampelte hektisch im Wasser. Überall waren Bläschen und zappelnde Beine. Es sah ein bisschen aus wie in
Der weiße Hai
, nur ohne den Hai.
Ich schwamm neben sie, um zu sehen, ob mit ihr alles in Ordnung war. Es hatte ihr die Sprache verschlagen, und sie deutete mit ihrem offenstehenden hübschen Mund auf den Grund des Beckens. Als ich meinen Kopf ins Wasser tauchte, traute ich meinen Augen nicht. Auf dem Boden des Beckens lag ein Junge mit Tauchermaske und blickte zu Lucy herauf. Ein Junge in meinem Alter. Ein Junge mit dickem Bauch und schmutzigem Grinsen im Gesicht. Ein Junge, der mich sofort erkannte und wie verrückt zu winken begann.
»O nein«, sagte ich laut, und Bläschen strömten aus meinem Mund.
Es war Paul Beary – einer meiner sogenannten Freunde aus der Schule.
Eigentlich klingt das so, als hätte ich noch andere Freunde. Habe ich aber nicht. Er ist der einzige. Wenn man nur einen
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