Das Perseus-Protokoll - Hensel, K: Perseus-Protokoll
Ball. Sie hielt eine Hand über die Augen, suchte den Horizont nach einem treibenden Motorboot ab. Nichts. Bloß zwei Yachten, deren Segel schlaff in der windstillen Luft hingen.
Sie hörte einen langgezogenen Ton aus einem Horn.
Der Ball flog nicht länger, Köpfe schwammen aufs Ufer zu. Maria stand auf. Sie sah Männer und Frauen, mit Hüten, Sonnenbrillen und kurzen Hosen. Sie kamen einen Pfad hinunter bis zum Strand. Ein Ausflugsschiff ankerte in der Bucht. Andere Touristen kamen aus dem Wasser. Sie lachten. Zwei Männer öffneten Bierflaschen, die sie im Wasser zwischen den Steinen gekühlt hatten.
Maria ging auf die Touristen zu, die schon etwas betrunken waren. Sie stieg mit ihnen in das Beiboot, das sie zu dem Schiff bringen sollte. Jetzt erst fiel Maria den anderen auf. Wegen ihrer eingerissenen Kleidung, weil sie barfuß war. Vor allem starrten sie auf ihren Hals. Das Schlucken tat immer noch weh, bestimmt hatte sie Schürfspuren vom Ankertau.
Das Beiboot legte an. Sie kletterten eine Leiter hoch an Bord des Schiffes. Die Musikanlage spielte Smoke on the water. Niemand wollte von Maria ein Ticket sehen. Offenbar hatten alle schon vorher, in einem größeren Hafen bezahlt. Sie setzte sich auf eine Bank nahe am Bug, etwas abseits der Touristen.
Zwei Frauen setzten sich neben sie. Eine stieß die andere an.
»What have they make with you?« , fragte schließlich eine und deutete auf Marias Hals. Sie hatte einen sächsischen Akzent. Maria antwortete:
»Mein Freund und ich haben uns getrennt.«
Ihre Stimme klang so heiser, sie erkannte sie nicht wieder. Die Frauen sahen sich betroffen an. »Das ist aber übel.«
Maria nickte. »Meine Brüder sind schon unterwegs.«
Die Frauen wagten keine weitere Frage.
Das Schiff lichtete Anker. Fuhr Richtung Westen. Auf einem der Hügel stand eine Hütte mit Bar und ein paar Tischen. Dort musste in der Nacht das Licht gebrannt haben. Das Schiff umrundete eine Landzunge, und Maria begriff, wo sie war: Sie war auf Día gestrandet, der kleinen, unbewohnten Insel, die sie aus dem Flugzeug gesehen hatte. Ein Ausflugsziel, sie hatte Julian eine Bootsfahrt dorthin versprochen. Es sollte hier wilde Ziegen geben. Und die Hügel hatten die Lichter Heraklions verdeckt, das höchstens zwanzig Kilometer entfernt lag.
Lachen und Küssen an Bord, Öffnen weiterer Bierflaschen. Don’t worry, be happy aus der Musikanlage. Das Schiff passierte das venezianische Kastell, die Mole. Ein Polizeiwagen stand auf dem Kai in der Sonne, Polizisten lehnten an den geöffneten Türen. Maria sah keine Demonstrationen, keine Panzerwagen, die Läden und Restaurants am Hafen hatten geöffnet.
Das Schiff legte an.
»Na, dann trotz allem schönen Urlaub«, sagten die Frauen.
»Meine Brüder kümmern sich«, sagte Maria und hustete.
Sie hörte aus dem Steuerhaus einen Ruf, sie ging schnell von Bord. Sie ging an dem Polizeiwagen vorbei. Sie erwartete den Zugriff von Polizisten oder Agenten in Zivil. Aber niemand sprach sie an, niemand hielt sie fest.
25 Avgoústou, die Fußgängerzone. Familien mit Gyros-Pitas und Eistüten. Afrikanische Straßenhändler hinter Gürteln und Handtaschen auf dem Pflaster. Sie war barfuß, ihre Kleider waren zerrissen, sie hatte Wundmale am Hals. Sie fühlte sich wie ein Gespenst. Im Ständer eines Zeitungskiosks hingen die Zeitungen von heute: Auf allen Titelseiten Bilder der Kathedrale, zerschossene Fenster, Krankenwagen. Straßenschlachten in Exárchia, Munitionsdepots, Männer mit Bärten und Palästinensertüchern. Die Propagandamaschine war also angelaufen. Aber lief sie noch?
Vor einer Boutique zogen sich zwei Amerikaner »I survived Greece« -T-Shirts über die Bäuche. Das Innere des Ladens war dunkel. Es gab keinen Strom. Jetzt fiel es Maria auf: Sie hatte, seit sie von Bord des Ausflugsschiffes gekommen war, kein Handyklingeln gehört. Sie hörte auch kaum Musik, nur hier und da Plärren aus Apparaten, die mit Batterien liefen. Die Amerikaner gingen mit ihren T-Shirts zur Kasse. Sie legten ihre Kreditkarte auf den Tresen. Die Frau holte ein mechanisches Lesegerät heraus. Eines, in dem man den Zahlungsbeleg über die Kreditkarte reibt. Maria fingerte ihre Kreditkarte aus dem durchweichten Portemonnaie. Sie suchte Hose, T-Shirt, Halstuch und Sandalen in ihrer Größe zusammen. Sie ging damit zur Kasse.
»Nicht bar?«, fragte die Verkäuferin.
Maria schüttelte den Kopf und legte ihre Kreditkarte hin. Sie legte noch ihren vom Meerwasser gewellten
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