Das Phantom im Opernhaus
25, allerhöchstens 30 Jahre, das ist für mich heute die Schmerzgrenze.«
Paul lachte herzhaft auf. »Und Sie meinen, dass sich so junge Dinger für Sie interessieren?«
»Aber sicher!«, bekräftigte der Reporter und fand zu seiner schützenden Arroganz zurück. Mit einem einzigen Schluck leerte er den großen Rest in seinem Weizenglas und sah auf die Uhr. »Mittlerweile können wir sicher sein, dass Sie versetzt wurden. Hören Sie auf meinen Rat und halten Sie sich künftig an Jüngere. Das ist zwar nichts Nachhaltiges, aber der Spaßfaktor ist enorm.«
»Sie sind ein Gefühlstrampel, hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?« Paul fixierte den Reporter und hielt ihm vor: »Irgendwann werden Sie auch noch lernen, zu Ihren wahren Gefühlen zu stehen und die alberne Fassade abzulegen. Den Schwerenöter nimmt Ihnen sowieso niemand mehr ab.«
Blohfeld wollte zu einer weiteren Widerrede ansetzen, als sich sein Handy bemerkbar machte. »Wer stört?«, raunzte er in den Apparat. Seine Brauen zogen sich zusammen, während er lauschte und dann ein paar knappe Worte mit dem Anrufer wechselte. Schließlich steckte er das Handy wieder ein. Schweigend mahlte er mit den Zähnen.
»Und?«, fragte Paul. »War es was Wichtiges?«
»Wie man es nimmt«, sagte der Reporter und sah Paul mit einer Mischung aus Häme und Mitleid an. »Ich habe gerade die Absage für Ihre Verabredung entgegengenommen.«
»Wie? Was?« Paul richtete sich auf.
»Wie ich geahnt hatte: Sie wird nicht kommen«, meinte der Reporter und rückte zur Seite.
»Woher wollen Sie das wissen? Mit wem haben Sie gesprochen?« Paul wusste nicht, wie ihm geschah.
»Es gab einen Mord«, ließ Blohfeld die Katze aus dem Sack. »Ich nehme an, dass Ihre Angebetete jetzt Besseres zu tun hat, als sich Ihren Heiratsantrag anzutun.«
Ein Mord? Dann war es tatsächlich kein Wunder, dass die Verabredung geplatzt war. Auch Paul stand jetzt auf. »Warten Sie, Blohfeld! Wo ist das passiert? Kann ich mitkommen?«, fragte er in der Hoffnung, Katinka noch am Tatort anzutreffen. Es behagte ihm zwar wenig, entgegen seiner jüngsten Vorsätze den Schauplatz eines Verbrechens aufzusuchen, doch das Verlangen nach seiner Liebsten überwog.
Der Reporter zwinkerte ihm zu. »Gern. Ich brauche sowieso einen Fotografen für die Story. Also, auf geht’s in die Oper!«
3
Den imposanten Monumentalbau des Opernhauses, dessen Sandsteinquaderfront im milden Licht der Sonne rötlich schimmerte, verband Paul stets mit glanzvollen Aufführungen im prächtigen Zuschauerraum mit seinen samtroten Sitzen, der traditionellen Struktur der Logen und den gigantischen Kronleuchtern als zentralem Blickfang. In seiner Vorstellung war alles fein herausgeputzt, der Zuschauersaal ebenso wie die Gäste. Der Tatort, zu dem er und Blohfeld von der Pressesprecherin des Polizeipräsidiums geführt wurden, stand allerdings in krassem Widerspruch zu diesen Erwartungen.
Sie befanden sich auf der wenig anheimelnden Hinterbühne. Im Grunde war es nichts als ein weiträumiger Verschlag, in dem sich diverse Kulissenbestandteile stapelten und ganze Szenenausstattungen platzsparend zusammengeschoben worden waren. Kaltes Neonlicht erhellte den zum Lagerraum degradierten Bühnenbereich, in dem es vor Polizeibeamten und Leuten von der Spurensicherung nur so wimmelte. Auch der Notarzt, der Zweifel an einem Unfalltod angemeldet und die Polizei hinzugezogen hatte, war noch vor Ort und wurde von einem Beamten in Zivil befragt.
Das Opfer lag inmitten der Kulissenteile: ein circa 40-jähriger Mann, dessen wie unter Krämpfen gekrümmter Körper in einem abgetragenen, braunen Cordanzug steckte. Er bot keinen schönen Anblick, denn seine Gesichtszüge waren zu einer Grimasse verzogen. Seine Mundwinkel waren mit einem weißlichen Schaum benetzt. Neben der Leiche lag eine professionelle Digitalkamera, die offenbar unsanft auf dem Boden gelandet war. Wie Paul mit einem kurzen Blick feststellte, war die vordere Linse des Objektivs gesprungen und der Korpus beim Aufprall ebenfalls beschädigt worden.
Paul hielt gebührenden Abstand zu der Leiche, denn an den Anblick von Toten hatte er sich auch in den vielen Jahren als Fotoreporter nicht gewöhnen können. Er musste sich jedes Mal zwingen, den Schauplatz einer solchen Tragödie durch die Brille des Profis zu betrachten und seine Emotionen auf Distanz zu halten. Inzwischen hatte er immerhin eine Taktik entwickelt, die ihm half, dem Tod ein wenig von seinem Schrecken und seiner
Weitere Kostenlose Bücher