Das Phantom im Opernhaus
Hatte Hannah seine Gedanken gespürt und meldete sich nun bei ihm? Doch als er die grüne Taste drückte, hörte er wider Erwarten nicht die Stimme einer forschen jungen Frau, sondern die eines erbosten älteren Herrn:
»Wo bleiben Sie, Flemming?«, wetterte Ricky Haas. »Wir beginnen jeden Augenblick mit dem Programm. Wir brauchen Sie umgehend für die Bilder!«
Mist! Siedendheiß fiel es ihm ein: Seinen eigentlichen Job an der Oper hatte er in der Aufregung völlig vergessen. Paul hätte längst an der Programmbühne sein müssen, um die Höhepunkte des Abends mit seiner Kamera einzufangen. »Ich komme sofort«, antwortete er schuldbewusst.
»Erst versetzt einen die erfahrenste Maskenbildnerin, dann noch der Bühnenknipser«, schimpfte Haas weiter. »Das kann ja heiter werden heute Abend!«
Paul warf einen letzten Blick auf Evelyn Glossner und die umstehenden Zivilbeamten. Er fragte sich, wann Katinka die Falle zuschnappen lassen und die Glossner festnehmen würde. Wahrscheinlich ließ sie in diesen Minuten Pauls Aussage überprüfen und einen Haftbefehl vorbereiten. Spätestens nach dem offiziellen Begrüßungsprogramm, schätzte Paul, würde man die Psychologin dezent in einen Nebentrakt geleiten und ihr dann die Handschellen anlegen.
Doch dies war nun nicht mehr seine Sache; eigentlich war sie es ja nie gewesen. Er musste nun einen oder zwei Gänge herunterschalten, ruhiger werden und sich der Aufgabe zuwenden, für die er bezahlt wurde.
Trotz dieses Vorsatzes war er jetzt wieder angespannt. Eine Nervosität erfüllte ihn, wie man sie verspürt, bevor ein Sturm losbricht. Er kannte dieses Gefühl; häufig signalisierte es, dass er der Lösung eines Falls nahe war, aber dieses Mal bedeutete es mehr. Ihn drückte die vage Ahnung, eine Gefahr oder etwas Böses übersehen zu haben.
Es kostete ihn darum große Selbstüberwindung, sich endlich von seinem Beobachtungsposten loszureißen. Er beeilte sich, in den Backstage-Bereich zu gelangen, wo bereits emsige Unruhe herrschte. Sängerinnen und Sänger, das Moderatorenpaar, Statisten und Musiker schwirrten durcheinander wie Bienen in einem Bienenstock. Die Kostümierungen der Akteure präsentierten sich ebenso bunt und unterschiedlich wie die musikalischen Werke, aus denen sie heute Abend Kostproben darbieten würden.
Haas, der in seinem eng anliegenden Smoking und seinen wie üblich bauschig aufgefönten Silberhaaren aussah wie der Chefdirigent persönlich, kam ihm voller Ungeduld entgegen: »Flemming, so geht das nicht!«, schimpfte er. »Der Ball ist das wichtigste Ereignis des Jahres. Sie können es sich nicht leisten, ausgerechnet an diesem Abend zu spät zu kommen!«
Paul, der auf dem Weg hierher die Dienstkamera aus seinem Spind geholt hatte, entschuldigte sich kurz und bündig: »Es ist mir wirklich sehr unangenehm. Aber jetzt bin ich ja da.«
Haas wippte auf seinen Füßen, um Paul gegenüber nicht zu klein zu wirken. »Dann verlieren Sie keine weitere Zeit! Fangen Sie endlich an, und denken Sie daran: Ich brauche grandiose Fotos vom Programmteil, vor allem vom Schlussakt!«
»Sie meinen die Arie aus Carmen?« ,vergewisserte sich Paul.
Haas nickte energisch. »Richtig. Die Habanera. Davon müssen Sie mir Top-Bilder liefern! Wenn Sie da wieder versagen, war das Ihr letzter Job an der Oper.«
Mit dieser offenen Drohung ließ er Paul stehen und wandte sich dem nächsten Problemfeld zu, das sich während ihres Gesprächs bereits angekündigt hatte: Ein neuer Unruheherd hatte sich am Inspizientenstand gebildet, wo einige Sängerinnen und Komparsen wie aufgeregte Teenager herumhüpften und dabei gackerten wie aufgescheuchte Hühner. Paul folgte Haas, um den Grund für die Aufregung zu erfahren, und war mehr als erstaunt, als er inmitten des Tumults Paula Dorfner erblickte.
Die Maskenbildnerin sah mitgenommen aus. In der Hand trug sie ihren Schminkkoffer, um den Hals das obligatorische goldene Kreuz. Als sie Haas erblickte, hob sie die Schultern zu einer hilflosen Geste und lächelte mühsam.
»Sie? Hier?«, brüllte der Regisseur. Dann fasste er sich und sagte ruhig, aber hart: »Egal, wo Sie die ganze Zeit gesteckt haben, darüber reden wir später. Jetzt brauchen wir jede Hand. Sehen Sie zu, dass Sie Ihre Arbeit machen. Und zwar pronto! «
Während für Haas die Sache damit erledigt zu sein schien, verharrte Paul an der Seite der verstört wirkenden Frau. Behutsam erkundigte er sich: »Ist alles okay mit Ihnen?«
Paula Dorfner sah ihn an. Ihre
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