Das Phantom im Opernhaus
genügt mir!«
Katinka rieb sich die Schläfen und dachte angestrengt nach. »Andererseits: Sie ist beruflich sehr häufig an der Oper, und ihre Alibis wurden bisher nicht überprüft. Es wäre also nicht undenkbar.« Langsam schien sie sich mit Pauls Gedankengängen anzufreunden. Noch immer aber standen die Zweifel in ihren Augen. »Du meinst also, dass sie es als Nächstes auf Irena abgesehen hat, weil die ihrem Freund so viel hatte durchgehen lassen? Das kommt ganz schön unvermittelt! Zwingend logisch ist das nämlich nicht; es ist eher eine recht spezielle Betrachtungsweise.«
»Ich bin ja auch nicht selbst darauf gekommen, sondern Hannah«, rechtfertigte sich Paul. »Aber nach allem, was passiert ist, sollte auch eine vage Ahnung ausreichen, um ein Menschenleben zu schützen!«
Ein Ruck ging durch Katinkas Körper. Resolut sagte sie: »Also gut: Wir ändern den Plan! Ich werde eine neue Order herausgeben. Misch du dich am besten wieder unters Publikum und bleib in Deckung.«
In Deckung? Paul wusste nicht, ob er das wirklich schaffen würde.
Die Türen öffneten sich, die Gäste strömten in den Ballsaal. Aaahs und Ooohs vertrieben die erwartungsvolle Stille. Auch die Luft kam in Bewegung, und es legten sich feine Nuancen von erlesenen Parfüms und Aftershaves über die Ränge. Paul vernahm das Rascheln der Ballkleider, das Klacken spitzer Absätze, das Tuscheln, Kichern und Räuspern.
Er selbst war auf den zweiten Rang hinaufgeeilt. Dieser gewährte einen guten Überblick auf das Parkett, zudem verlor Paul auch die gegenüberliegenden Ränge und Logen nicht aus den Augen.
Der Saal, aus dem sämtliche Sitze entfernt worden waren und der später, nach dem obligatorischen Aufruf »Alles Walzer!« eine einzige große Tanzfläche bilden würde, füllte sich mehr und mehr. Die bewegte Unruhe des Kommens und Suchens nach dem besten Stehplatz wich einer geordneten Struktur und Pärchenbildung: jeweils ein farbenfrohes Ballkleid neben einem schwarzen Smoking.
Paul beugte sich über die Brüstung und betrachtete die Personengrüppchen und -gruppen. Er sah sich jedes einzelne Paar an, darunter viele bekannte Nürnberger, zumeist alter Geldadel, darüber hinaus etliche Emporkömmlinge. Die fast ausnahmslose Systematik der schwarz gekleideten Ehemänner und ihrer lebhaft gewandeten Frauen erleichterte Paul die Arbeit: So fiel es ihm relativ leicht, die Menschen einander zuzuordnen.
Im hinteren Drittel kam er ins Trudeln. Dort durchmischten sich die Gäste, standen Männerrunden beieinander, darunter – ja, kein Zweifel! – war auch Eduard Ascherl. Soweit Paul das aus der Distanz erkennen konnte, trug er einen rotgoldenen Orden an der Brust. Wahrscheinlich das Verdienstkreuz am Bande. Noch weiter hinten hatte eine gut gelaunte Frauenclique zusammengefunden. Weitere Grüppchen formierten sich, aber auch Einzelpersonen stachen heraus: etwa einige Männer, die etwas ratlos suchend im Zickzack liefen, und eine Dame ohne Begleitung. Paul beugte sich weiter vor und sah genau hin.
Die Frau, die in sein Blickfeld gerückt war, trug ein weit fallendes, türkisfarbenes Paillettenkleid und ein dazu passendes Haarband. Ihr Gesicht war rund und freundlich.
Pauls Herzschlag schien für einen Moment auszusetzen. Ungläubig starrte er auf die Frau im Publikum: Evelyn Glossner schlenderte seelenruhig durch den Zuschauerraum – lächelnd, ungerührt, so harmlos wirkend wie jeder andere Gast.
Paul befand sich in Habachtstellung, bereit, loszulaufen und zu den überall bereitstehenden Polizisten zu eilen. Doch dann bemerkte er, dass die Glossner längst erkannt worden war. Katinkas zivil gekleidete Späher postierten sich in ihrer Nähe und bildeten einen dezenten, aber kaum zu durchdringenden Kranz um sie. Evelyn Glossner stand unter permanenter Beobachtung. Sie konnte ab jetzt keinen Schritt mehr tun, ohne dass Polizei und Staatsanwaltschaft es wüssten.
Mit wohliger Erleichterung ließ sich Paul auf einen Sitz zurückfallen und atmete tief durch. Es verschaffte ihm eine große Genugtuung zu wissen, dass Katinka die Sache im Griff hatte. Und es entlastete ihn ungemein, die Verantwortung abgeben und loslassen zu können. Gelassen wartete er nun auf den Beginn der Veranstaltung.
Doch die Entspannung war zu früh gekommen. Just in diesem Augenblick fiel ihm diejenige ein, mit der er zur Oper gefahren war: Wo, zum Teufel, steckte Hannah?
32
Als sein Handy in der Hosentasche zu vibrieren begann, glaubte er an Intuition:
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