Das Phantom von Manhattan - Roman
ein falsches Bild.
Zweitens dürfen Sie nie aufhören zu lernen. Dieser Prozeß endet niemals. Seien Sie wie ein Eichhörnchen. Speichern Sie Informationen und Erkenntnisse,
auf die Sie zufällig stoßen; Sie wissen nie, ob dieses Wissen nicht das entscheidende Teilchen eines Puzzles ist, das sonst unvollständig bliebe.
Drittens benötigen Sie eine »Nase« für eine Story. Das bedeutet eine Art sechsten Sinn, ein Gefühl dafür, daß etwas nicht in Ordnung ist, daß etwas Seltsames vor sich geht, das sonst niemand zu sehen scheint. Gelingt es Ihnen nicht, diesen Spürsinn zu entwickeln, sind Sie vielleicht kompetent und gewissenhaft, ein durchaus brauchbarer Journalist, aber die eigentlichen Storys entgehen Ihnen, ohne daß Sie etwas davon ahnen: Sie nehmen an Pressekonferenzen teil, auf denen man Ihnen nur das sagt, was Sie nach Ansicht der maßgeblichen Stellen erfahren sollen. Sie berichten brav, was Sie gehört haben, ob wahr oder unwahr, spielt keine Rolle. Sie nehmen Ihren Gehaltsscheck in Empfang und gehen in dem Bewußtsein nach Hause, gute Arbeit geleistet zu haben. Aber ohne Spürsinn werden Sie niemals wie im Adrenalinrausch in eine Bar schlendern und wissen, daß Sie eben den größten Skandal des Jahres aufgedeckt haben, weil Ihnen eine zufällig hingeworfene seltsame Bemerkung, eine Kolonne gefälschter Zahlen, ein ungerechtfertigter Freispruch oder eine plötzlich fallengelassene Anklage aufgefallen ist, die alle Ihre Kollegen übersehen haben. In unserem Beruf kommt nichts diesem Adrenalinrausch gleich; man fühlt sich wie ein Grand-Prix-Sieger, wenn man weiß, daß man soeben einen großen Exklusivbericht abgeliefert und die gesamte Konkurrenz aus dem Feld geschlagen hat.
Uns Journalisten ist es nicht bestimmt, geliebt zu
werden. Wie Cops müssen wir uns einfach mit dieser Tatsache abfinden, wenn wir diesen seltsamen Beruf ergreifen wollen. Aber auch wenn die Großen und Mächtigen uns nicht mögen - sie brauchen uns!
Der Filmstar übersieht uns vielleicht, wenn er in seine Limousine steigt, aber wenn die Presse weder ihn noch seine Filme erwähnt, wenn sie monatelang weder sein Bild bringt noch über ihn berichtet, fordert sein Agent die seinem Star gebührende Aufmerksamkeit ein.
Der Politiker mag uns vielleicht verwünschen, wenn er an der Macht ist, aber würden wir ihn völlig ignorieren, wenn er wiedergewählt werden möchte oder einen Erfolg zu vermelden hat, müßte er bald um Beachtung betteln.
Die Großen und Mächtigen gefallen sich darin, auf die Presse herabzusehen, aber sie brauchen uns weiß Gott. Denn sie leben von und durch die Publicity, die wir ihnen verschaffen. Die Sportgrößen wollen, daß über ihre Leistungen berichtet wird. Die Gastgeberinnen der High Society schicken uns zum Dienstboteneingang, aber wenn wir nichts über ihre Wohltätigkeitsarbeit und gesellschaftlichen Erfolge schreiben, sind sie verzweifelt.
Journalismus ist eine Form der Macht. Falsch gebrauchte Macht ist Tyrannei, umsichtig gebrauchte hingegen eine Notwendigkeit, ohne die keine Gesellschaft auskommt. Das führt uns zu Regel Nummer vier: Es ist nicht unsere Aufgabe, uns dem Establishment anzuschließen, so zu tun, als gehörten wir durch unsere Nähe zu ihnen tatsächlich zum Kreis der Großen
und Mächtigen. In einer Demokratie besteht unsere Aufgabe darin zu sondieren, aufzudecken, zu kontrollieren, zu erhellen, zu enthüllen, zu fragen, zu verhören. Wir haben die Aufgabe, alles anzuzweifeln, bis die Informationen, die wir erhalten, sich als wahr erwiesen haben. Da wir Macht besitzen, werden wir von den Marktschreiern, den Schwindlern, den Scharlatanen, den Quacksalbern aus Finanzwesen, Handel, Industrie, Showgeschäft und vor allem der Politik hofiert.
Ihre Dienstherrn sollten allein die Wahrheit und der Leser sein. Kriechen Sie niemals, weichen Sie nicht zurück, lassen Sie sich nicht einschüchtern, und vergessen Sie nicht, daß der Leser für sein Geld das gleiche Recht hat, die Wahrheit zu erfahren, wie der Senat. Bleiben Sie daher Macht und Privilegien gegenüber skeptisch, dann werden Sie uns allen Ehre machen.
Und da die Zeit fortgeschritten ist und Sie nach einem anstrengenden Studientag sicher müde sind, will ich Ihnen in der mir heute verbleibenden Zeit eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte über eine Geschichte. Nein, dies ist keine Story, in der ich der triumphierende Held war, ganz im Gegenteil. Es ist eine Story, deren dramatische Zuspitzung ich nicht erkannte, weil ich
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