Das Phantom von Manhattan - Roman
beobachtete ich, wie er ihr einen kleinen Zettel überreichte, den sie rasch in ihr Mieder steckte. Dann verschwand er wieder im Haus, und die Primadonna kam allein die Treppe herab, um sich erneut unter die Gäste zu mischen. Ich glaube nicht, daß dieser höchst eigenartige Vorfall jemandem außer mir aufgefallen ist.
Erst lange nach Mitternacht verließen die Feiernden - müde, aber höchst zufrieden - das Fest und fuhren mit ihren Kutschen zu ihren Häusern oder Hotels zurück. Und ich eilte in die Redaktion der New York World , um sicherzustellen, daß Sie, meine verehrten Leser, als erste von den Ereignissen im Manhattan Opera House erfahren.
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DIE VORLESUNG VON PROF. CHARLES BLOOM
Journalistische Fakultät,
Columbia University,
New York, März 1947
L adys und Gentlemen, junge Amerikaner, die Sie danach streben, eines Tages große Journalisten zu werden, ich möchte mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Charles Bloom. Ich habe fast fünfzig Jahre - hauptsächlich in dieser Stadt - als Journalist gearbeitet.
Um die Jahrhundertwende fing ich beim alten New York American als Redaktionsbote an und brachte es bis 1903 zum Lokalreporter, der täglich über alle interessanten Geschehnisse aus dieser Stadt zu berichten hatte.
Im Lauf der Jahre erlebte ich unzählige Ereignisse mit und berichtete über sie: Manche haben unsere Geschichte und die Welt verändert, manche sind nur tragisch gewesen. Ich war dabei, als Charles Lindbergh von einem in Nebel gehüllten Flugplatz aus zu seinem Flug über den Atlantik aufbrach und dann als Held wieder zurückkehrte. Ich berichtete über die
Amtseinführung Franklin D. Roosevelts und vor zwei Jahren über seinen Tod. Ich war im Ersten Weltkrieg nie in Europa, aber ich verabschiedete unsere tapferen Soldaten, als sie den New Yorker Hafen verließen, um auf den Schlachtfeldern Flanderns zu kämpfen.
Vom American , wo ich mit einem Kollegen namens Damon Runyon sehr gut befreundet war, ging ich zur Herald Tribune und schließlich zur Times.
Ich berichtete über Morde und Selbstmorde, Mafia-Bandenkriege und Bürgermeisterwahlen, Kriege und die Verträge, durch die sie beendet wurden, über prominente Besucher New Yorks und die Bewohner der Armenviertel. Ich lebte bei den Großen und Mächtigen, den Armen und Notleidenden, schrieb über die Taten der Guten und die der Bösen. Und alles in dieser einen Stadt, die niemals schläft und niemals stirbt.
Während des letzten Krieges gelang es mir, trotz meines Alters nach Europa geschickt zu werden. Ich flog Einsätze unserer B-17 über Deutschland mit - was mir verdammt Angst einjagte, wie ich zugeben muß -, war Augenzeuge der deutschen Kapitulation vor fast zwei Jahren und berichtete zum Schluß über die Potsdamer Konferenz im Sommer 1945. Dort lernte ich den britischen Regierungschef Winston Churchill kennen, der während der Konferenz abgewählt und durch den neuen Premierminister Clement Attlee ersetzt wurde, und natürlich unseren eigenen Präsidenten Truman und sogar Stalin, einen Mann, der - so vermute ich - bald nicht mehr unser Freund sein wird.
Bei meiner Rückkehr war ich reif für den Ruhestand. Ich ging freiwillig, bevor ich hinausgedrängt wurde, und erhielt das freundliche Angebot des Dekans dieser Fakultät, hier als Gastdozent zu lesen und Ihnen einige der Dinge beizubringen, die ich mir selbst mühsam habe erarbeiten müssen.
Würde jemand mich fragen, welche Eigenschaften einen guten Journalisten ausmachen, würde ich sagen, es seien vier. Erstens sollten Sie immer versuchen, nicht nur Augenzeuge zu sein und zu berichten, sondern zu begreifen. Bemühen Sie sich, die Menschen zu verstehen, denen Sie begegnen, und die Ereignisse, die Sie sehen. Es gibt ein altes Sprichwort: Alles verstehen heißt alles verzeihen. Der Mensch kann nicht alles begreifen, weil er unvollkommen ist, aber er kann danach streben. Deshalb versuchen wir denen, die nicht dabei waren, aber informiert werden möchten, zu berichten, was sich wirklich ereignet hat. Denn die zukünftige Geschichtsschreibung wird festhalten, daß wir die Zeitzeugen waren, daß wir mehr gesehen haben als die Politiker, Beamten, Bankiers, Finanziers, Großindustriellen und Generäle. Weil sie in ihren jeweiligen Welten gefangen waren, während wir uns auf vielen Schauplätzen tummelten. Wir sind schlechte Zeugen, wenn wir nur Fakten und Zahlen aneinanderreihen und den Lügen ebensoviel Glauben schenken wie der Wahrheit - dadurch entsteht
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