Das Phantom von Manhattan - Roman
Champion, Sailor Tom Sharkey, und der amtierende Weltmeister, der Kanadier Tommy Burns, standen. Zwischen diesen Riesen kam ich mir wie eine Liliputanerin vor.
Dann erschien die Diva persönlich. Der begeisterte Applaus, der sie empfing, als sie die Stufen herabstieg, wurde vom Präsidenten angeführt, der nun vortrat, um sich von Mr. Hammerstein bekannt machen zu lassen. Mit europäischer Galanterie beugte Mr. Roosevelt sich über ihre Hand und küßte sie unter Beifallsrufen der versammelten Menge. Dann begrüßte er den ersten Tenor, Signor Bonci, und die übrigen Mitglieder des Ensembles, die Mr. Hammerstein im einzelnen vorstellte.
Nachdem der Form Genüge getan war, bot unser humorvoller Präsident der liebreizenden jungen Französin seinen Arm und machte mit ihr einen Rundgang, um ihr die anderen Gäste vorzustellen. Besonders entzückt war sie darüber, Colonel Bill Cody, Buffalo Bill persönlich, kennenzulernen, dessen Wild West Show jenseits des Flusses in Brooklyn die Massen anlockt. Als ich näher an die Gruppe um den Präsidenten herantrat, beobachtete ich, wie Teddy Roosevelt Mme. de Chagny den neuen Gatten seiner Nichte vorstellte, und hatte bald Gelegenheit, einige Worte mit diesem wirklich blendend aussehenden jungen Mann zu wechseln. Er kommt gerade aus Harvard und studiert an der Columbia Law School in
New York. Ich fragte ihn natürlich, ob er eine politische Karriere wie sein berühmter Onkel anstrebe, und er sagte, dies sei später durchaus denkbar. Vielleicht werden wir also noch von Franklin Delano Roosevelt hören.
Während das Fest lebhafter und reichlich gegessen und getrunken wurde, fiel mir auf, daß in einer Ecke ein Klavier aufgestellt worden war, an dem ein junger Mann leichte, heitere moderne Stücke spielte. Er war russischer Einwanderer, der, wie er mir mit immer noch starkem Akzent erzählte, einige dieser Melodien selbst komponiert hatte und ein etablierter Komponist werden wollte. Nun, dann viel Glück, Irving Berlin.
Aber einer, den viele gern kennengelernt und beglückwünscht hätten, schien anfangs auf dem Fest zu fehlen: der unbekannte Ersatzmann, der für David Melrose, der sich in ärztliche Behandlung hatte begeben müssen, eingesprungen war. Zunächst vermutete man, seine Abwesenheit lasse sich damit erklären, daß es nicht ganz einfach für ihn war, das kunstvolle Make-up, das den größten Teil seines Gesichts bedeckte, zu entfernen. Die übrigen Mitglieder des Ensembles hatten sich unter die Partygäste gemischt - prächtige dunkelblau-goldene Südstaaten- und taubengraue Konföderiertenuniformen. Und die Darsteller der »verwundeten« Soldaten in den Lazarettszenen hatten sich rasch aus den Verbänden befreit und die primitiven Krücken weggelegt. Nur der geheimnisvolle Tenor blieb weiterhin verschwunden.
Doch plötzlich erschien er am Portal des Herrenhauses
oben an der Freitreppe, die zu der Party auf der Bühne führte. Aber es war nur ein kurzer Auftritt. Ist dieser außergewöhnlich begabte Sänger wirklich so menschenscheu? Viele der Gäste unter dem Säulenvordach bemerkten ihn nicht einmal. Aber es gab jemanden, der sofort auf ihn aufmerksam wurde.
Als er aus dem Portal trat, sah ich, daß er noch immer den Verband trug, der während der Vorstellung den größten Teil seines Gesichts bedeckt und nur die Augen und ein Stück Unterkiefer frei gelassen hatte. Seine Hand lag auf der Schulter des Knabensoprans, dessen Gesang uns so begeistert hatte: Pierre, der Sohne Mme. de Chagnys. Er schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern, und der Junge nickte, um zu zeigen, daß er verstanden hatte.
Mme. de Chagny entdeckte die beiden sofort, und ich hatte den Eindruck, als ziehe ein Schatten über ihr Gesicht. Ihr Blick blieb starr auf die Augen hinter der Maske gerichtet; sie wurde sehr blaß, sah ihren Sohn neben dem Tenor im Taubengrau der Konföderierten stehen und schlug unwillkürlich die Hand vor den Mund. Dann lief sie die Treppe hinauf auf die merkwürdige Erscheinung zu, während die Musik weiterspielte und die Gäste plauderten und lachten.
Ich sah die beiden einige Augenblicke lang eindringlich miteinander sprechen. Mme. de Chagny nahm die Hand des Tenors von der Schulter ihres Sohns und bedeutete dem Jungen, die Treppe hinunterzulaufen, was er auch tat - zweifellos, um sich eine Limonade zu holen. Erst jetzt lächelte die Diva wieder. Machte er ihr ein Kompliment für den Auftritt
ihres Lebens, oder schien sie Angst um den Jungen zu haben?
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