Das Phantom von Manhattan - Roman
jung und unbekümmert war und nicht wirklich begriff, was sich vor meinen Augen abspielte.
Außerdem ist dies die einzige Geschichte in meinem Leben, über die ich nie berichtet habe, obwohl in den Archiven die Einzelheiten darüber zu finden sind, die von der Polizei später zur Veröffentlichung durch
die Presse freigegeben wurden. Aber ich war dabei; ich habe alles gesehen, ich hätte es wissen müssen, doch ich habe es nicht erkannt - einer der Gründe, warum ich sie nie abgeliefert habe. Ein anderer ist, daß es Dinge gibt, die Menschen vernichten würden, wenn alle Welt davon erführe. Manche verdienen eine öffentliche Bloßstellung, und ich habe sie kennengelernt: Nazigeneräle, Mafiabosse, korrupte Gewerkschaftsführer und bestechliche Politiker. Doch die meisten Menschen verdienen sie nicht, und das Leben mancher ist schon an sich so tragisch, daß eine Preisgabe ihres Elends ihren Schmerz nur verdoppeln würde. Obwohl ich damals bei Randolph Hearsts Sensationspresse arbeitete und meinen Hut hätte nehmen müssen, wenn der Chefredakteur mir auf die Schliche gekommen wäre, war das Erlebte zu traurig, als daß ich darüber hätte schreiben können. Jetzt, vierzig Jahre später, ist alles nicht mehr so wichtig.
Meine Geschichte spielt im Winter 1906. Ich war vierundzwanzig, ein New Yorker Straßenjunge und stolz darauf, Reporter beim American zu sein. Ich liebte meine Arbeit. Aus heutiger Sicht kann ich über meine damalige Arroganz nur staunen. Ich war impertinent, von mir selbst überzeugt, begriff aber sehr wenig.
Im Dezember dieses Jahres empfing die Stadt eine der berühmtesten Opernsängerinnen der Welt, eine gewisse Christine de Chagny. Sie war der Star der Eröffnungswoche eines neuen Opernhauses, der Manhattan Opera, die nach drei Jahren wieder schließen mußte. Die Diva war zweiunddreißig, schön und sehr
charmant. Außer ihrem zwölfjährigen Sohn Pierre hatte sie eine Kammerzofe und den Hauslehrer des Jungen, einen irischen Priester namens Joseph Kilfoyle, in ihrem Gefolge. Und ihre beiden Sekretäre. Sie traf einige Tage vor der Eröffnungsgala, die am dritten Dezember 1906 in der Manhattan Opera stattfand, ohne ihren Ehemann ein, der am zweiten Dezember mit einem späteren Schiff nachkam, weil er durch die Verwaltung seiner Ländereien in der Normandie aufgehalten worden war.
Obwohl ich nichts von Opern verstand, begriff ich, daß ihre Ankunft eine Sensation war, weil vor ihr noch nie eine berühmte Sängerin den Atlantik überquert hatte, um in New York aufzutreten. Die ganze Stadt lag ihr zu Füßen. Durch ein wenig Glück und Chuzpe hatte ich es geschafft, daß sie mir gestattete, ihr Cicerone in New York zu sein. Das war ein traumhafter Job. Da sie ständig von der Presse verfolgt wurde, schirmte ihr Gastgeber, der Opernimpresario Oscar Hammerstein, sie vor der Galapremiere völlig ab. Das galt aber nicht für mich: Ich hatte Zutritt zu ihrer Suite im Waldorf-Astoria und konnte täglich über ihren Tagesablauf und ihre Termine berichten. Das war äußerst förderlich für meine Karriere in der Lokalredaktion des American .
Um uns herum ging jedoch etwas Mysteriöses und Seltsames vor sich, das ich nicht zu erkennen vermochte. Dieses »Etwas« war eine bizarre und schwer zu fassende Gestalt, die beliebig auftauchte und wieder verschwand, aber offenbar eine wichtige Rolle hinter den Kulissen spielte.
Angefangen hatte alles mit einem Brief, den ein aus Paris angereister Anwalt persönlich überbringen sollte. Rein zufällig gelang es dank meiner Hilfe, diesen Brief seinem Adressaten in der Zentrale eines der reichsten und mächtigsten New Yorker Konzerne zu übergeben. Dort im Konferenzraum erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf diesen Mann. Er starrte mich durch einen Spion in der Wand an; ein gräßlich entstelltes Gesicht war hinter einer Maske verborgen. Ich dachte nicht weiter darüber nach, denn niemand wollte mir glauben.
Die eigentlich für die Eröffnungsgala der Manhattan Opera vorgesehene Primadonna wurde vier Wochen nach ihrer Verpflichtung wieder ausgeladen und die französische Diva für eine astronomisch hohe Gage nach New York geholt. Außerdem kamen Gerüchte auf, Oscar Hammerstein habe einen geheimen und noch reicheren Geldgeber, einen unsichtbaren Finanzier und Teilhaber, der ihn angewiesen habe, diese Änderung vorzunehmen. Ich hätte den Zusammenhang ahnen müssen, tat es aber nicht.
Am Ankunftstag der Lady auf einer Pier am Hudson tauchte das seltsame Phantom
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