Das Phantom von Manhattan - Roman
gestärkte weiße Kragen und Manschetten trugen. Leider hatte das eine Wäscherechnung zur Folge, die junge Männer mit kargem Lohn sich nicht leisten konnten. Daher trugen viele von uns abknöpfbare weiße Zelluloidkragen und -manschetten, die man abends abnehmen und mit einem feuchten Tuch sauberwischen konnte. So war es möglich, ein Hemd mehrere Tage lang anzuziehen. Ohne mein Notizbuch aus der Jackentasche zu ziehen, notierte
ich mir die Worte des Mannes, den ich nur als Darius kannte, auf meiner linken Manschette.
Er wirkte wie ein Wahnsinniger, als er an mir vorbeirannte, völlig anders als ich ihn in Erinnerung hatte, nämlich als kalte, distanzierte Führungskraft. Seine weit aufgerissenen schwarzen Augen blickten starr, sein Gesicht war wie zuvor leichenblaß, und sein rabenschwarzes Haar flatterte im Wind. Ich drehte mich um, weil ich wissen wollte, wohin er lief, und sah ihn den Ausgang des Vergnügungsparks erreichen. Dort begegnete er dem irischen Priester, der den Jungen in die Kutsche gesetzt hatte und zurückkam, um dessen Mutter zu suchen.
Als Darius den Priester sah, blieb er wie angewurzelt stehen, und die beiden starrten sich einige Sekunden lang an. Obwohl ich dreißig Meter von ihnen entfernt war, konnte ich die Spannung spüren. Sie glichen zwei Pitbulls, die sich am Tag vor einem Kampf begegnen. Dann lief Darius zu seiner eigenen Kutsche und jagte davon.
Pater Kilfoyle kam mit grimmigem und nachdenklichem Gesicht den Weg entlang. Mme. de Chagny tauchte blaß und sichtlich mitgenommen aus dem Spiegelkabinett auf. Ich befand mich inmitten eines Dramas und verstand noch immer nicht, was sich hier abspielte. Auf der Rückfahrt zur Hochbahnstation und danach im Zug nach Manhattan waren wir alle außer dem Jungen schweigsam. Er erzählte mir fröhlich plappernd vom Besuch im Spiegelkabinett.
Den letzten Hinweis erhielt ich drei Tage später. Die Eröffnungsgala war ein Triumph, eine neue Oper,
deren Titel ich im Augenblick vergessen habe - nun, ich bin eben nie ein Opernfan gewesen. Mme. de Chagny sang offenbar wie ein Engel und rührte das halbe Publikum zu Tränen. Anschließend gab es auf der Bühne eine tolle Premierenparty. Präsident Teddy Roosevelt und die Superreichen der New Yorker Gesellschaft waren anwesend; zu den Gästen gehörten Boxer, Schauspieler, Filmregisseure und Berühmtheiten wie Buffalo Bill - ja, junge Dame, ich habe ihn tatsächlich noch kennengelernt -, die alle der jungen Primadonna zu Füßen lagen.
Da die Oper im Amerikanischen Bürgerkrieg spielte, bestand das Bühnenbild der ersten Szene aus der Fassade eines prächtigen Herrenhauses auf einer Plantage in Virginia mit erhöhtem Portal, von dem rechts und links je eine Treppe auf die Bühne hinunterführte. Als die Premierenfeier längst in vollem Gange war, erschien oben im Portal des Hauses ein Mann.
Ich erkannte ihn sofort - oder glaubte es jedenfalls. Er hatte noch sein Kostüm an, die Uniform eines verwundeten Hauptmanns der Nordstaatenarmee, der so schwere Kopfverletzungen erlitten hatte, daß der größte Teil seines Gesichts mit einer Maske bedeckt war. Er hatte im letzten Akt ein leidenschaftliches Duett mit Mme. de Chagny gesungen und ihr den Verlobungsring zurückgegeben. Eigenartigerweise trug er auch jetzt - lange nach der Vorstellung - noch immer seine Maske. Dann wurde mir endlich klar, weshalb. Dies war das Phantom, der geheimnisvolle Unbekannte, dem so viel von New York zu gehören
schien, der mit seinem Geld das Manhattan Opera House hatte erbauen und die französische Primadonna über den Atlantik holen lassen, damit sie hier auftrat. Aber warum? Das sollte ich erst erfahren, als es zu spät war.
Ich unterhielt mich gerade mit dem Vicomte de Chagny, einem charmanten Mann, der unglaublich stolz auf den Erfolg seiner Frau und entzückt darüber war, daß sie gerade die Bekanntschaft unseres Präsidenten gemacht hatte. Über seine Schulter hinweg sah ich die Diva die Treppe zum Portal hinaufeilen und mit der Gestalt reden, die ich jetzt für das Phantom hielt. Ich wußte, daß es wieder der Unbekannte war, und hatte den Eindruck, sie stehe in seinem Bann. Damals wußte ich noch nicht, daß die beiden sich dreizehn Jahre zuvor in Paris nahegestanden hatten - und noch einiges mehr.
Bevor sie sich trennten, steckte er ihr eine Nachricht auf einem klein zusammengefalteten Zettel zu, den sie in ihr Mieder schob. Dann verschwand er, wie es seine Art war: eben noch da, im nächsten Augenblick schon
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