Das Puppenzimmer - Roman
anordnete, dann hatten wir zu spuren.
Wir spurten immer, wenn Miss Mountford etwas von uns verlangte. Waisenkinder waren leichter abzurichten als Hunde, was das anging. Ließ man Hunde tagelang hungern, konnten die zumindest versuchen, einander aufzufressen – für uns Mädchen kam das nicht in Frage. Und wie der Lehrer in der Schule hatte auch Miss Mountford immer einen Rohrstock zur Hand, mit dem es etwas auf die Finger gab, wenn eine von uns nicht gehorcht hatte. War Miss Mountford nicht zugegen, um ein Vergehen selbst zu bemerken, gab es immer andere Mädchen, die nur allzu bereit waren zu petzen – schon weil das den eigenen Fingerchen einen halben Tag lang Schonung versprach, und die grässlichen Näharbeiten, mit denen wir unsere Nachmittage verbringen mussten, um uns ein kleines Taschengeld zu verdienen und vor allem dafür zu sorgen, dass unsere Vorsteherin es sich auch leisten konnte, uns zu füttern, waren noch einmal so unerträglich, wenn alle Knochen der Hand schmerzten.
Ich hätte einen Klaps auf mein Hinterteil allemal bevorzugt, aber das gehörte zu einer Region unseres Körpers, an die wir keinen Gedanken zu verschwenden hatten – anständige Waisenmädchen waren keusch und reinlich und wussten, was sich schickte. Das musste der Grund sein, warum Miss Mountford auch lange nach Königin Victorias Tod ihr Porträt in der Halle nicht durch das ihres Nachfolgers ersetzt hatte – es war schlicht undenkbar, dass wir Mädchen jeden Tag zuallererst einen Mann zu Gesicht bekamen, und noch dazu einen von so fragwürdiger Moral! Mochte außerhalb der Mauern von St. Margaret’s auch König Edward VII. über England herrschen, wir waren und blieben treue Viktorianerinnen, zumindest bis zu dem Tag, an dem wir das Waisenhaus hinter uns ließen.
Drei Wege führten aus St. Margaret’s hinaus: Als Erstes der Tod, eine schreckliche und traurige und doch seltsam alltägliche Angelegenheit. Ich kann mich zwar an kein Mädchen erinnern, das wirklich verhungert wäre, aber niemand von uns war proper genug, um lange durchzuhalten, wenn eine schwere Krankheit an die Tür klopfte: Keuchhusten für die Kleinen, Scharlach für die Mittleren und Lungenentzündung für die Großen – der Tod war nicht wählerisch, wenn er nach St. Margaret’s kam, und es ist erstaunlich, wie viele von uns tatsächlich alt genug wurden, um den zweiten Weg hinauszufinden: Wer die Schule beendet hatte, der konnte selbst für den eigenen Unterhalt sorgen, und ob die Mädchen nun irgendwo in Anstellung gegeben wurden oder in der Fabrik endeten, das Leben, das sie erwartete, war sicher keinen Schlag besser als das in St. Margaret’s. Aber was gab es Besseres als eine anständige Vorbereitung auf Not und Entbehrungen? Der dritte Weg, die Adoption, war der einzige, den wir uns zu wünschen wagten. Und darum gelang es auch kaum einer von uns jemals, ihn zu beschreiten.
Es kam nicht besonders häufig vor, dass Gentlemen sich zu uns verirrten, schon gar nicht alleine. Wenn es um Adoptionen ging, kamen doch meist Ehepaare, wenn überhaupt: Wer sollte schon St. Margaret’s für eine Adoption in Betracht ziehen? Das Haus schien aus einem schlechten Dickens-Abklatsch entsprungen zu sein, der als Fortsetzung in einer billigen Zeitung erschien, deren Druckerschwärze hinterher an Händen und Schürze klebte. Außen war es ein großer und dunkler Bau, innen immer noch dunkel, aber überhaupt nicht mehr groß. Es gab dort nur drei Schlafsäle für uns, dazu Küche, Speisesaal und Handarbeitszimmer – natürlich hatte auch Miss Mountford ihre Wirtschaftsräume, aber groß waren auch die nicht, als hätte sich St. Margaret’s so sehr verausgabt bei dem Versuch, ein eindrucksvolles Äußeres auf die Beine zu stellen, dass fürs Innere nichts mehr übrig blieb. So kalt und zugig war es in St. Margaret’s, dass jede adoptionswillige Mutter damit rechnen musste, die so erworbene Tochter binnen Jahresfrist an die Schwindsucht zu verlieren, und das dämpfte die Freude doch sicherlich gewaltig.
So mussten wir, die armen Zöglinge, damit rechnen, früher oder später ins Arbeitshaus überzusiedeln, es sei denn, jemand nahm uns vorher in seinen Dienst, denn bei einer Scheuermagd kam es nicht darauf an, wann oder aus welchen Gründen sie der Schwindsucht anheimfiel. Scheuermägde waren viel leichter zu ersetzen als Töchter. Es hieß also, die Fabrik oder Dienerschaft – wir konnten uns nicht entscheiden, was davon nun die schlimmere Aussicht war, und so
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