Das Puppenzimmer - Roman
wurden die allergrößten Hoffnungen in die Adoptionen, wie selten sie auch vorkommen mochten, gesetzt. Niemand musste uns zweimal ermahnen, unsere Haare vor dem Flechten zum saubersten aller Scheitel zu kämmen, die Fingernägel zu schrubben und unser süßestes Sonntagslächeln aufzusetzen, wenn interessierte Herrschaften ihren Besuch ankündigten.
Der Gentleman, der an jenem schicksalsvollen Tag nach St. Margaret’s kam, hatte sich jedoch nicht angekündigt, was natürlich ein strategischer Schachzug sein konnte: So erwischte er diejenigen Mädchen, die ihr Haar nicht stets senkrecht scheitelten und die Fingernägel nicht sauber hielten, unvorbereitet. Der Gentleman hatte es eilig, wie es schien. Natürlich, so etwas Wichtiges wie eine Adoption sollte man immer übers Knie brechen, aber auch mit ausführlicher Vorbereitung war die Auswahl zwischen 60 Mädchen, in drei Reihen nach Größe aufgestellt – alle gekleidet in das gleiche dunkelblaue Leinen und mit den gleichen straff geflochtenen Zöpfen –, nicht viel anders als die Wahl eines Hundewelpen aus einem zappelnden Wurf. Aber war er überhaupt wegen einer Adoption gekommen?
Wir, die wir schon etwas älter waren, hatten die Hoffnung ohnehin aufgegeben – 14 Jahre, so gut wie fertig mit der Schule und schon mit einem Fuß im Arbeitshaus. Zum Adoptieren eigneten sich die kleineren Mädchen besser. Jene, die noch nicht so lange in St. Margaret’s waren, dass die karge und strenge Kost von Mrs. Hubert, unserer Köchin, ihre Grübchen glatt gebügelt hätte, und deren blondes Haar sich noch lieblich kräuselte, statt durch tausend stramme Zöpfe straff gezogen worden zu sein. Ab einem gewissen Alter wurde niemand mehr adoptiert. Da konnte man nur hoffen, dass ein Gentleman kam, die Reihen entlangschritt und dann erklärte, dieses oder jenes Mädchen wäre in Wirklichkeit die verschollene Erbin von Leicester – seht nur, hier ist das Testament –, um dann in einer prachtvollen Kutsche davonzufahren zu dem Haus, das von nun an ihr Stammsitz sein sollte.
Aber nicht so bei diesem Gentleman. Bei ihm kamen die Mädchen auf noch ganz andere Gedanken. Er war groß und schmal, einer, der im Leben noch nie hatte arbeiten müssen, und wenn, dann nicht hart oder körperlich. Es lag so viel Würde in seinen schmalen Schultern, so viel Anmut. Dazu ein fein geschnittenes, ernstes Gesicht mit einem tragischen Zug um den Mundwinkel und dunklen Schatten unter seinen noch dunkleren Augen – als hätte man ihn einer beliebigen Brontë-Schwester entrissen, bevor sie ihn zum Helden eines Romans hatte machen können. Mit seinem schwarzen Haar und dem schwarzen Anzug sah er aus wie eine sehr ernste Dohle, und sein Blick ging durch Mark und Bein, dass man sich ganz klein fühlte und gleichzeitig irgendwie erhaben, weil er einen überhaupt beachtete. Ich sah ihn und kannte sofort all die romantischen Gedanken, die den anderen Großen, die wie ich in der hinteren Reihe stehen mussten, durch den Kopf gingen.
Aber nicht mir. Meine romantischen Phantasien bestanden nicht darin, dass ein dunkler Fremder in mein Leben trat und mich auf den Stammsitz seiner Familie entführte. Gegen eine Adoption hätte ich zwar nichts einzuwenden gehabt, aber selbst dann hatte ich nicht vor, lange zu bleiben. Mein Traum – ob ihn nun irgendjemand außer mir romantisch fand oder nicht – war es, mit dem Zirkus durchzubrennen. Die große und wilde Freiheit, jeden Tag an einem anderen Ort zu sein, faszinierte mich. Das entbehrungsreiche Leben auf der einen Seite, der Applaus auf der anderen, und ich mittendrin, hoch oben in der Luft, ganz allein auf dem Drahtseil. Ich stellte mir vor, dass irgendwo der Platz einer Seiltänzerin frei geworden sein musste, seit Elvira Madigan mit ihrem Leutnant davongelaufen war. Es kümmerte mich dabei wenig, dass diese Geschichte schon bald 20 Jahre zurücklag – romantische Träume mussten sich nicht um die Realität scheren. Manchmal erschien mir Elvira mit ihrem süßen Gesicht und dem langen, offenen Haar, um das ich sie so sehr beneidete, und flüsterte mir zu, dass sie das alles nur für mich getan hatte, damit ich zum Zirkus gehen konnte. Ich habe Elvira nie verstanden. Wer rennt denn mit einem Leutnant davon, wenn er auch auf dem Seil tanzen kann? Dass sie sich am Ende beide erschossen haben, geschah ihnen nur recht.
Ich tat mein Bestes, um diesen Traum eines Tages Wirklichkeit werden zu lassen. Auf der offenen Galerie im ersten Stock versuchte ich, wann
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