Das Rachespiel: Psychothriller (German Edition)
passiert ist. Ihre Gedanken rasen, sie weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Eigentlich kann sie sich freuen, denn nun braucht sie nicht mehr loszufahren, um Hilfe zu holen. Kupfers Vater wird es schaffen, Festus aus dem Loch herauszuziehen. Sie muss nur zu ihm laufen und ihm die Stelle zeigen, an der Festus liegt. Anderseits weiß sie von Kupfer, dass der Alte gemein und unberechenbar ist. Wer weiß, wie er reagiert, wenn sie plötzlich vor ihm steht.
Erneute, knirschende Schritte lenken Manu ab, und sie späht wieder um die Ecke. Kupfers Vater kommt jetzt auf sie zu, er ist nur noch wenige Meter entfernt. Sein Blick ist auf das Fenster gerichtet, das ihnen als Eingang gedient hat. Wenn er ihr Fahrrad entdeckt, braucht sie nicht mehr zu überlegen, ob sie sich verstecken soll oder nicht. Als Manu den Mann genau betrachtet, verlässt sie der Mut. Sie hat ihn schon oft gesehen, und sie hat immer Angst vor ihm gehabt, aber noch nie ist ihr der brutale und böse Gesichtsausdruck so deutlich aufgefallen wie jetzt. Diese kalten Augen, der schmale Mund und die platte Boxernase …
Manu zieht schnell den Kopf zurück, als er einen Blick in ihre Richtung wirft. Nein, sie wird sich ihm auf keinen Fall zeigen, und sie hofft inständig, dass ihm ihr Rad nicht auffällt.
Die Geräusche ändern sich, und Manu kann nicht anders, sie muss nachsehen, was los ist. Sie sieht gerade noch ein Bein in der Fensternische verschwinden, dann ist Kupfers Vater im Inneren der Fabrikhalle verschwunden.
Manu schaut hinüber zu ihrem Fahrrad, das nur wenige Meter neben dem Fenster an der Wand lehnt, und wundert sich, dass er es nicht bemerkt hat. Sie möchte hinlaufen und es wegnehmen, überlegt es sich aber wieder anders. Was, wenn er es zwar gesehen, sich aber keine weiteren Gedanken darüber gemacht hat? Vielleicht denkt er, einer der Freunde seines Sohnes hat es hier stehen lassen und traut sich jetzt nicht mehr her? Was, wenn er rauskommt, und das Rad ist plötzlich weg? Dann weiß er, dass er nicht allein hier ist. Nein, sie muss es stehen lassen.
Aber was soll sie nur tun? Kann sie es wagen, durch das Fenster zu schauen? Nein, besser nicht. Kupfers Vater braucht nur einen Blick herüber zu werfen und würde sie sofort entdecken.
Manu entschließt sich, erst einmal nichts zu tun und abzuwarten, was passiert. Wenn der Alte Festus findet, wird er ihn bestimmt aus dem Loch ziehen und ins Krankenhaus bringen, und alles wird gut.
Manu zwingt sich dazu, sich auf die Tatsache zu konzentrieren, dass Festus gerettet wird. Sie sagt sich, dass das ein Grund zur Freude ist, denn sie werden nun nicht für immer mit der Schuld am Tod eines behinderten Jungen leben müssen. Aber sie kann sich nicht freuen, denn immer wieder tauchen diese schemenhaften Bilder auf, die ihr Verstand so krampfhaft zu verdrängen versucht, weil er wohl weiß, dass sie ihm schaden werden, wenn er sie ohne Gegenwehr zulässt. Es sind Bilder von Ratten, die kleine Stücke aus dem Fleisch eines lebendigen Jungen reißen, der sich nicht dagegen wehren kann.
Manu hat keine Vorstellung davon, wie lange sie an die Wand der Baracke gelehnt dasteht und gegen die Bilder in ihrem Inneren kämpft. Sie hat das Gefühl, es war sehr lange, als erneute Geräusche sie hochfahren lassen.
Kupfers Vater taucht in der Fensternische auf und springt ohne Zögern mit einem Satz auf den Boden. Sofort wendet er sich ab und geht mit schnellen Schritten davon.
Manu ist irritiert, sie weiß nicht, was sie davon halten soll, dass der Mann ohne Festus wieder aufgetaucht ist. Dann dämmert ihr, dass er es wahrscheinlich nicht allein geschafft hat, Festus aus dem Loch zu befreien, und jetzt unterwegs ist, um Hilfe zu holen. Das heißt, sie hat die Zeit, noch mal kurz nach ihm zu sehen. Aber sie muss sich beeilen. Sie braucht keine drei Minuten bis zu der Einsturzstelle, denn anders als beim ersten Mal traut sie sich, zügig einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie geht gleich an den gezackten Rändern des Lochs vorbei und schaut erwartungsvoll nach unten.
Das Bild, das sich ihr bietet, diese Szene, die ihr Verstand wie mit Säure für immer in ihre Seele ätzt, ist so grauenvoll, dass sie ohnmächtig wird.
Als Manu wieder zu sich kommt, liegt sie auf den Trümmern am Rand des Lochs. Für einen kurzen Moment weiß sie nicht, wo sie ist, doch dann kehrt die Erinnerung mit aller Gewalt zurück und lässt sie augenblicklich hochschnellen.
Sie spürt Schmerzen an allen möglichen Stellen ihres
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