Das Rachespiel: Psychothriller (German Edition)
Chance, ihn zu sehen.
Du bist zurückgekommen, um ihn zu suchen, sagt sie sich. Also such ihn auch. Wenn du jetzt gehst, hast du deine letzte Chance vertan. Und seine.
Bis zu der nächsten Stelle braucht sie nicht mehr so lange, aber es bietet sich ihr ein fast identisches Bild. Trümmer aus Holz, Steinen, Ziegel … Schutt. Sonst nichts. Mit hängenden Schultern und sinkendem Mut wendet sie sich dem nächsten Loch zu, macht einen vorsichtigen Schritt, noch einen, verlagert ihr Gewicht nach vorne. Als sie das andere Bein nachzieht, gibt der Untergrund plötzlich nach, ihr Fuß rutscht weg. Sie schreit auf, rudert hektisch mit den Armen, versucht, mit den Füßen wieder Halt zu finden, doch es ist zu spät, sie kann das Gleichgewicht nicht mehr halten und fällt nach hinten. Als sie auf dem unebenen Untergrund aufschlägt, fährt ihr ein stechender Schmerz durch die linke Hüfte, und der rechte Ellbogen tut ihr weh. Manu stöhnt auf, wagt aber nicht, sich zu bewegen, aus Angst, der Boden könnte unter ihr nachgeben und sie mehrere Meter nach unten stürzen lassen. Tränen laufen ihr über das Gesicht, während sie angestrengt und mit zusammengebissenen Zähnen auf ein Geräusch lauscht, das größeres Unheil ankündigt. Das Knarren von Holz oder das Bröckeln von Steinen. Doch alles bleibt ruhig. Offenbar ist der Stein, auf den sie getreten ist, einfach nur weggerutscht. Sie hat wohl Glück gehabt. Behutsam tastet sie nach ihrer linken Hüfte und hofft inständig, dass sie sich nichts gebrochen hat. Wie sollte sie dann wieder hier rauskommen? Die Stelle schmerzt zwar, aber sie kann das Becken und auch das Bein bewegen. Manu richtet sich vorsichtig ein Stück weit auf, schiebt ihr Shirt ein wenig nach oben und betrachtet die etwa handtellergroße Schürfwunde über dem Hüftknochen. Sie blutet an mehreren Stellen, und ihre linke Seite wird sicher blau werden, aber sie hat trotzdem großes Glück gehabt, das weiß sie.
Auch am Ellbogen hat sie nur eine Schürfwunde. Sie scheint etwas tiefer zu sein, und es tut ziemlich weh, als sie den Arm beugt und wieder streckt, aber gebrochen ist auch an dieser Stelle offensichtlich nichts.
Manu stützt sich zu beiden Seiten auf den Steinen ab und drückt sich langsam nach oben. Als sie wieder steht, pocht ihre Hüfte, doch sie denkt sofort an Festus und an das, was ihm wahrscheinlich widerfahren ist, und der Schmerz erscheint ihr nicht mehr so schlimm. Energisch wischt sie sich die Tränen von den Wangen und schaut sich um. Nein, sie wird jetzt nicht jammern und aufgeben. Sie ist hier, um nach Festus zu suchen, und das wird sie auch tun.
Im übernächsten Loch findet sie ihn.
Damals …
Manu
2
Sie sieht das Bein in der karierten Hose sofort, als sie einen Blick über den Rand der Einbruchstelle wirft.
Der dünne, blanke Unterschenkel, der aus dem Stoff herausschaut, ist übersät von kleinen Wunden. Manu schreit erschrocken auf.
Sie hat Festus gefunden, und ihr wird in diesem Moment klar, dass sie nicht wirklich damit gerechnet hat, dass sie vielleicht nur zurückgekommen ist, um ihr Gewissen zu beruhigen, dass sie … Es ist egal, alles ist egal. Sie hat ihn gefunden.
Aber sein Bein bewegt sich nicht. Und mehr kann sie im Moment noch nicht von ihm sehen. Schnell und nicht mehr so vorsichtig wie zuvor beginnt sie, weiter um die Einsturzstelle herumzulaufen. Erst als sie die gegenüberliegende Seite erreicht hat, schaut sie nach unten und bleibt im gleichen Moment stocksteif stehen.
Festus liegt zwischen Steinen und Balken, das Gesicht nach oben. Die Augen sind geschlossen. Das Bein, das Manu von der anderen Seite aus nicht sehen konnte, steht in einem unnatürlichen Winkel von der Hüfte ab. Auf der Stirn hat er eine größere, verkrustete Wunde, auf den Wangen, dem Hals und den nackten Armen befinden sich unzählige kleine, teils noch blutende Stellen. Doch es sind nicht Festus’ Verletzungen, die dazu führen, dass sie sich schließlich übergeben muss.
Es sind die Ratten, die um Festus herum und über seinen Körper krabbeln. Und es ist das schlagartige Bewusstsein, woher die vielen kleinen Wunden stammen, mit denen seine Haut übersät ist.
Es dauert lange, bis Manu es wagt, wieder hinzusehen. Nur ganz langsam senkt sie den Blick.
Es sind nicht übermäßig viele Ratten, vielleicht sieben oder acht, und während sie die fürchterliche Szene betrachtet, verhalten sich die Tiere ruhig, aber es ist das Schlimmste und Ekelhafteste, das sie je gesehen hat. Als
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