Das Rachespiel: Psychothriller (German Edition)
Ratten, die um ihn herumtippeln und ihn mit kalt glänzenden schwarzen Augen ansehen. Die sich von Minute zu Minute näher an ihn heranwagen, weil sie zu spüren scheinen, dass er nicht viel gegen sie ausrichten kann. Irgendwann wagt die erste Ratte den Vorstoß zu seinem Bein und schlägt ihre gelben Zähne in sein Fleisch. Manu sieht die unbeschreibliche Angst und das Entsetzen in den Augen des Jungen, und sie möchte all seinen Schmerz für ihn herausschreien.
Sie bückt sich, hebt einen kleinen Stein auf und wirft ihn nach den Ratten. Es ist ihr egal, ob sie Festus dabei vielleicht trifft. Er lebt, und es geht darum, diese verdammten Ratten von ihm wegzutreiben. Der Stein trifft mit einem dumpfen Geräusch auf einen Holzbalken zwei Meter neben Festus auf und spritzt zur Seite weg, ohne eine Ratte oder den Jungen getroffen zu haben. Manu bückt sich erneut und sammelt gleich mehrere Steine. »Geht weg, ihr Drecksratten«, schreit sie, während Stein um Stein in das Loch niedersaust. Einmal trifft sie Festus’ Bauch, aber zweimal auch einen der pelzigen Körper, die sich daraufhin mit einem lauten Fiepen blitzschnell davonmachen. Und Manu bückt sich wieder, sammelt hektisch Steine und wirft sie, bückt sich. Es ist wie ein Rausch. Die Welt um sie herum beginnt sich zu drehen, ein letzter, klarer Bereich ihres Verstandes sagt ihr, dass sie nicht das Bewusstsein verlieren darf, weil sie dann in das Loch fallen könnte – zu Festus, zu den Ratten. Sie schüttelt unter Aufbringung aller Willenskraft den Kopf, um die schwarzen Punkte zu vertreiben, die vor ihren Augen tanzen. Es scheint zu wirken, ihre Umgebung wird wieder klarer, aber sie weiß, sie muss weg von diesem Loch, um durchatmen zu können. Nur kurz, sie wird gleich wieder zurückkommen, sie wird Festus nicht allein lassen. Aber in diesem Moment muss sie raus aus der Fabrik und den Trümmern.
Manu hat schon die ersten zwei, drei Meter von der Einsturzstelle weg in Richtung Fenster zurückgelegt, als ihr erst bewusst wird, dass sie sich schon auf dem Weg nach draußen befindet. Sie fühlt sich wie ferngesteuert. Ihre Muskeln scheinen nicht mehr auf die Befehle ihres eigenen Gehirns zu reagieren, sondern auf die eines fremden.
Sie stolpert einmal, schafft es aber, ohne zu stürzen, zum Fenster und hinaus. Als sie endlich draußen angekommen ist, lehnt sie sich mit einem Seufzer an die Wand der kleinen Baracke, die einige Meter neben dem Fabrikgebäude steht. Der Putz ist größtenteils abgefallen, das Dach muss schon vor Jahren eingefallen sein.
Manu starrt vor sich auf den Boden. Wenige Zentimeter vor ihrer Schuhspitze entdeckt sie eine Ameise und verfolgt ihren Weg über Erdklümpchen und sonstige kleine Hindernisse, die in den Augen des Insekts jedoch riesig erscheinen müssen. Und doch legt die Ameise ihren Weg scheinbar mit Leichtigkeit zurück, egal, wie hoch ein Hindernis auch ist. Der vertraute Anblick tut Manu gut, sie spürt, dass sie wieder klarer denken kann.
Sie wird sich keine lange Pause gönnen und gleich wieder da reingehen. Festus lebt. Er ist verletzt, schwerverletzt, aber er lebt. Nein, sie wird nicht wieder hineingehen, sie wird sofort losfahren und Hilfe holen. Die Feuerwehr wird ihn da rausholen können, und dann wird alles wieder gut. Sie werden Ärger bekommen, alle vier, aber auch die anderen werden das in Kauf nehmen, wenn sie erfahren, dass sie Festus das Leben gerettet hat.
Das Bild der Ratten, die ihre Zähne in Festus schlagen, drängt sich in den Vordergrund und lässt sie wieder aufstöhnen. Sie muss es wegschieben, darf nicht darüber nachdenken. Sie muss los, jetzt.
Manu steht auf und sieht sich nach ihrem Fahrrad um, als etwas sie herumfahren lässt. Geräusche, ganz in ihrer Nähe.
Schritte, die schnell näher kommen.
Damals …
Manu
3
Hektisch schaut sie sich um, ihr Blick fällt auf ihr Fahrrad. Sie wird es nicht mehr schaffen, es zu verstecken. Manu rennt hinter die Baracke und kauert sich an die Rückwand.
Sie hört die Schritte noch immer, aber sie scheinen nicht mehr näher zu kommen, sondern auf der Stelle zu treten.
Manu geht bis zum Ende der Wand und wagt einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Sie traut ihren Augen nicht.
Es ist Kupfers Vater, der dort gerade an den Brettern rüttelt, mit denen eines der Fenster verschlossen worden ist. Manu zuckt zurück und sucht nach einer Erklärung für sein Auftauchen, aber ihr wird klar, dass es nur eine Möglichkeit gibt: Kupfer hat ihm erzählt, was
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