Das Rachespiel: Psychothriller (German Edition)
eine der Ratten über Festus’ Gesicht läuft, stöhnt Manu laut auf. Und doch versucht sie, sich zusammenzureißen. Sie muss nachdenken, was sie nun tun soll. »He, geh weg, du Drecksvieh«, ruft sie hilflos in das Loch hinab. »Lass ihn in Ruhe. Lasst ihn alle in Ruhe.« Hektisch bückt sie sich, greift nach einem kleinen Stein und hebt den Arm, um ihn hinunter auf die Ratten zu schleudern. Doch im nächsten Moment hält sie mitten in der Bewegung inne. Sie ist keine gute Werferin. Was, wenn sie Festus trifft? Vielleicht sogar im Gesicht? Manus Hand öffnet sich, und der Stein fällt seitlich von ihr zu Boden.
Was soll sie tun?
Soll sie den anderen erzählen, dass sie Festus gefunden hat? Dass er bei dem Einsturz ums Leben gekommen ist? Und noch wichtiger: Was macht sie jetzt und hier als Nächstes? Sie kann Festus nicht mehr helfen, aber … diese Ratten. Sie kann doch nicht einfach weggehen und zulassen, dass die Ratten weiter an ihm fressen. Sie … sie … Mit einem Mal bricht das ganze Grauen, das sie empfindet, mit voller Wucht aus ihr heraus. Es macht sich Platz in einem langgezogenen Schrei, der in einen Weinkrampf übergeht. Ihr Körper krampft sich unter heftigen Zuckungen zusammen, während sie immer wieder laut aufschluchzt. Dazwischen stammelt sie Dinge wie »O Gott« und »Nein, bitte«.
Endlich beruhigt sie sich ein wenig und richtet sich langsam wieder auf. Sie zittert am ganzen Körper und versucht, es zu unterdrücken, doch es gelingt ihr nicht. Mit klappernden Zähnen und zuckenden Gliedern steht sie im gleißenden Sonnenlicht und schlingt die Arme um sich.
Kann sie es schaffen, Festus aus dem Loch zu ziehen? Nein, unmöglich. Zumindest nicht alleine. Soll sie Hilfe holen? Die Feuerwehr alarmieren? Und dann? Dann wird alles rauskommen, die Leute werden für alle Zeit hinter vorgehaltener Hand über sie tuscheln.
»Schau da, das ist die, die damals den armen, kranken Jungen in den Tod getrieben hat«, werden die Leute sagen, wenn sie sie auf der Straße sehen. »Er hat ihr vertraut, hat sie ein schönes Mädchen genannt.«
In der Schule werden alle mit dem Finger auf sie zeigen.
Und ihre Mama? Ihrer Mama wird es das Herz brechen, wenn sie erfährt, dass ihre Manu bei so etwas mitgemacht hat, das weiß sie. Und Festus wird es nicht mehr helfen, er ist tot. Aber die Ratten …
Er ist tot, sagt sie sich. Er spürt nichts mehr. Wenn man ihn in eine Kiste legt und auf dem Friedhof vergräbt, wird sein Körper auch zerfallen. Das ist etwas ganz Natürliches. Sie sollen sie beruhigen, diese Gedanken, aber sie tun es nicht.
Und wenn sie ihn zudeckt? Wenn sie etwas über ihn wirft, eine schwere Decke oder eine Plane, dann werden die Ratten nicht mehr an ihn herankommen. Allerdings wird man dann wissen, dass jemand ihn entdeckt und keine Hilfe gerufen hat. Nein, das geht auch nicht. Das …
Manu erstarrt. Die ganze Zeit über hat sie in das Loch vor sich geschaut, nicht direkt auf Festus, sondern an ihm vorbei, und doch hat sie die Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Nur ganz kurz, und doch glaubt Manu, dass sich Festus’ Arm gerade ein winziges Stück bewegt hat. Sie starrt gebannt auf die Stelle, wo sein Arm jetzt liegt, unfähig, sich zu regen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Das kann doch nicht sein. Festus ist tot, wie kann sich da sein Arm bewegen? Dann fällt ihr eine Lösung ein, die zwar furchtbar, aber sehr wahrscheinlich ist. Es muss eine Ratte gewesen sein. Wahrscheinlich ist sie so dicht an Festus vorbeigelaufen, dass sie seinen Arm berührt und ein Stückchen zur Seite gedrückt hat. Diese Ratten, sie sind so ekelhaft! Manu spürt, wie sich ihr Magen erneut zusammenkrampft. Sie hofft, dass sie sich nicht schon wieder übergeben muss, und will sich gerade von dem furchtbaren Bild abwenden, als ein Geräusch vom Boden der Einbruchstelle zu ihr heraufdringt. So unwahrscheinlich es auch ist, Manu weiß sofort, was es war.
Sie hat gerade ein Stöhnen gehört, und es kam aus dem Mund des Jungen, der nun schon seit Stunden mit gebrochener Hüfte und zahlreichen Bisswunden zwischen den Trümmern liegen muss. Den sie für tot gehalten hat, aber … Festus lebt.
Manu steht da und starrt auf den reglosen Körper, versucht zu begreifen, dass Festus noch lebt, aber es gelingt ihr nicht. Ihre Gedanken versuchen sich an etwas festzuhalten, doch in ihrem Inneren ziehen nur Bilder vorbei. Sie zeigen Festus, der in diesem Loch liegt und sich nicht bewegen kann. Und sie zeigen
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