Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
Mandant duzte die Gegnerin. Offenbar kannten sie sich persönlich.
Ich tat, was ich niemals zuvor getan hatte. Es war keine übliche und noch nicht einmal eine angebrachte Handlung. Heute kann ich sie mir auch nicht mehr erklären. Vielleicht geschah es aus Trotz gegen meinen so unsympathischen Mandanten. Oder wegen meiner sentimentalen Erinnerungen an Marie kurz zuvor.
Ich griff zum Telefonhörer und wählte eine der in meiner Akte aufgeführten Nummern. Ich wollte schon wieder auflegen, als sich am anderen Ende der Leitung eine ältere, aber immer noch zarte Frauenstimme meldete.
»Ja?«
»Guten Tag, mein Name ist Robert Weber. Ich bin Patentanwalt. Herr Ansgar Kiesewitz hat mich beauftragt. Spreche ich mit Frau Ingrid Söhnke?«
Für einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Legen Sie nicht auf!«, sagte ich schnell, etwas flehender als beabsichtigt. Wieder entstand eine Pause, bevor ich eine Erwiderung zu hören bekam.
»Sie sind also der Mann, der mich zur Strecke bringen soll?«, fragte meine Gesprächspartnerin trocken. Ich war nicht sicher, ob sie dabei verbittert oder süffisant klang.
»Ich bin der Anwalt, der von Herrn Kiesewitz wegen des Patentrechtsstreits beauftragt wurde«, stellte ich etwas umständlich klar. Ich fühlte mich plötzlich unwohl und bereute es schon, dass ich überhaupt angerufen hatte.
»Kiesewitz ist ein Mörder!«, drang es aus dem Hörer.
Ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder gefangen hatte.
»Ich verstehe nicht«, sagte ich.
»Er hat meinen Gatten auf dem Gewissen.«
»Ich verstehe immer noch nicht.«
»Kommen Sie mich besuchen, wenn es Sie wirklich interessiert; dann erkläre ich es Ihnen.«
Ich stockte. Als Patentanwalt war ich ausschließlich meinem Mandanten verpflichtet. Es war mir nicht nur berufsrechtlich verboten, mich über die Maßen mit der Gegenseite zu beschäftigen; es stellte sogar eine Straftat dar, für die ich ins Gefängnis kommen konnte.
»Ich komme«, versprach ich und konnte selbst nicht glauben, was ich hier tat.
»Samstag. Wann, ist egal, ich bin den ganzen Tag hier. Sie fahren auf den Hof und lassen die Betriebshalle links liegen. Dahinter steht ein kleiner Bungalow.«
»Ich werde gegen Nachmittag bei Ihnen sein.«
»Bis dann.«
Meine Gesprächspartnerin legte auf, und ich hörte das kurze Tuten des Besetztzeichens. Mit bedächtigen Bewegungen legte ich den Hörer auf, lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück und lockerte meinen Krawattenknoten.
Ich war jung, erfolgreich – und auf dem direkten Weg in die Patentanwaltshölle.
Erstaunlicherweise fühlte ich mich nicht schlecht dabei.
4
Draschwitz, 1714
Seit der missglückten Aufführung in Gera waren zwei Jahre vergangen. Orffyreus hatte in der kleinen Stadt Draschwitz Zuflucht gefunden, die keine Tagesreise von Gera entfernt lag. Mit seiner Frau Barbara, den Kindern Jonas, Elias und David sowie der Magd Anne Rosine Mauersberger war er im leer stehenden Bediensteten-Trakt eines verfallenen Ritterguts untergekommen. Es bot auch genügend Platz für die fünf jungen Männer, die ihn begleiteten und ihm als Gehilfen dienten. Drei waren Waisen. Sie hießen Hannes, Franz und Paul und trugen alle den Nachnamen Moser. Sie waren Brüder, keiner älter als sechzehn Jahre. Orffyreus hatte sie aus einem Zuchthaus in Zittau freigekauft, wo sie wegen Bettelei inhaftiert gewesen waren. Sie zeigten sich dankbar für die zurückgewonnene Freiheit und folgten ihm gegen freie Kost und Logis. Gustav, ein bärbeißiger Knecht Ende zwanzig, hatte bereits Barbaras Vater gedient und war ihnen von deren Familie im Zuge der Mitgift überlassen worden. Ein weiterer Knabe, der sich Xaver nannte und dessen Alter niemand kannte, hatte sich ihnen in Meuselwitz angeschlossen. Er redete kaum, arbeitete aber im Austausch für eine tägliche Mahlzeit hart und zuverlässig.
Ihr neues Zuhause lag etwas versteckt am Rande der kleinen Gemeinde, was Orffyreus nach den Geschehnissen von Gera nur gelegen kam. Im Wirtshaus erzählte man sich, dass der Gutsherr, der Freiherr von Seitz, sein Vermögen in einer einzigen Nacht beim Pharaospiel verloren hatte. Sämtliches Gesinde außer einer einzigen Köchin und einer tauben Magd waren vom Freiherrn schon vor Jahren aus dem Dienst entlassen worden, sodass die ehemaligen Behausungen der Bediensteten verwaist waren.
Als Gegenleistung für die Unterkunft war anstelle eines Mietzinses vereinbart worden, dass Orffyreus, der seine eigene handwerkliche
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